Wir brauchen eine neue Form des Gedenkens

Wir brauchen eine neue Form des Gedenkens
Ist der Volkstrauertag noch zeitgemäß? Aufabe müsste es sein, die Klage um die Opfer der Gegenwart mit dem Gedenken an die Toten der Vergangenheit zu verbinden.
14.11.2010
Von Ralf-Peter Reimann

Volkstrauertag 2010 – brauchen wir ihn heute noch? Welchen Sinn macht es, an Kriegstote zu gedenken, mehr als 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges? Auf Ehrenmalen steht oft die Inschrift: "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft" – will man wirklich auch der Opfer des Holocausts und des Nazi-Terrors gedenken – dann eignen sich wahrscheinlich andere Gedenktage besser, die deutlicher die Opfers der Nazis benennen und diese nicht hinter dem unscheinbaren Begriff "Gewaltherrschaft" verstecken.

Oder ist der Volkstrauertag doch noch für viele ein Heldengedenktag? Oder ein Gedenktag für die letzten überlebenden Kriegsveteranen, die sich ihrer gefallenen Kameraden erinnern? Wie lässt er sich gestalten – in einer Zeit, in der Deutschland in Afghanistan Krieg führt, ohne dass dabei das Wort "Krieg" benutzt wird. Oder ist der Hindukusch so weit vom Alltag der meisten Deutschen entfernt, dass der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr nicht im gesellschaftlichen Bewusstsein präsent ist?

Erzählungen aus dem Krieg

Erzählungen vom Krieg kenne ich nur durch meine Großmutter, die zwei Weltkriege erlebt hatte – es war eine andere Welt, in die uns meine Großmutter mitnahm, wenn sie von früher erzählte. Der zweite Weltkrieg hatte ihr Leben verändert, sie hatte als Kriegsfolge ihre Heimat in Polen verloren. Abgesehen von diesen Erzählungen am sonntäglichen Kaffeetisch spielte der Krieg keine Rolle mehr – er war ein Ereignis aus einer fernen Vergangenheit für mich.

Am Volkstrauertag war zwar das Erinnern Programm, berührte mich aber in meiner Kindheit nicht sehr. "Versöhnung über den Gräbern" – so versuchte ein Lehrer, der den zweiten Weltkrieg als junger Soldat miterlebt hatte, uns zu motivieren, für die Kriegsgräberfürsorge zu sammeln. Pflichtgemäß meldete ich mich als Unterstufenschüler.

Fackel in der Hand

Interessanter wurde der Volkstrauertag, als ich zur Freiwilligen Feuerwehr kam. In Ermangelung einer örtlichen Kompanie der Bundeswehr durften wir als junge Feuerwehrleute am Ehrenmal mit einer Fackel in der Hand Wache stehen, während der Ortsvorsteher eine Rede hielt. Wir mussten allerdings bei den Helmen das Nackenleder entfernen, das bei Feuerwehrleuten sonst bis auf die Schulter herabhängt, um vor Funkenschlag zu schützen.

Ältere Feuerwehrkameraden erzählten, ohne Nackenleder sähen die Feuerwehrhelme so aus wie die Wehrmachtshelme der Weltkriegssoldaten. Im Rückblick ist es unglaublich, aber Anfang der achtziger Jahre wurde der Volkstrauertag in unserem Ort fast noch als Heldengedenktag begangen. Auf dem Ehrenmal stand zwar die Inschrift "Den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft" – aber erst als ein neuer Ortsvorsteher kam, änderten sich auch die Ansprachen, nun wurden auch die Opfer des Nazi-Terrors entsprechend gewürdigt.

Kontrast zum Ewigkeitssonntag

Gegenüber dem kirchlichen Ewigkeitssonntag, an dem Christen ihrer Verstorbenen gedenken, steht beim Volkstrauertag das staatliche Gedenken an Opfer des Krieges und Nazi-Terrors im Vordergrund. In einigen Orten hält jedoch auch der Pfarrer oder die Pfarrerin die Ansprache. Als Kirchenkreispfarrer meldete ich ich Ende der 90er Jahre freiwillig, um die Gemeindepfarrerin bei der Ansprache zu vertreten. Ich suchte die Herausforderung, einerseits dem Bedürfnis der am Ehrenmal Versammelten gerecht zu werden und Worte zu finden, die theologisch angemessen sind. Die Wehrmachtsausstellung  des Hamburger Instituts für Sozialforschung war kurz zuvor gezeigt worden und hatte deutlich gemacht, dass die Vorstellung einer sauberen Wehrmacht eine Legende der Nachkriegszeit war – auch Soldaten hatten sich an den Verbrechen der Nazis beteiligt.

Ich wählte für meine Ansprache einen persönlichen Zugang – und sprach von meinen Großvätern, die als so genannte Volksdeutsche nach dem Einmarsch in Polen zur Wehrmacht eingezogen wurden und so Mitwirkende – also Täter - in einem verbrecherischen Krieg wurden, andererseits wurden sie als Soldaten auch Opfer, missbraucht und verführt von einem verbrecherischem Regime, zum Kämpfen gezwungen, und wurden durch den Krieg ihrer Gesundheit, ihrer Jugend und ihrer Heimat beraubt. Ein Teilnehmer an der Feierstunde ging aus Protest, andere wendeten sich ab. Augen begannen aber zu glänzen, als die Kapelle "Ich hatt einen Kameraden" spielte.

Erinnerung an Kriegstote

Wir brauchen neue Formen, den Volkstrauertag zu begehen. Die Erinnerung an die Kriegstoten beider Weltkriege – und an die Opfer der Nazi-Diktatur – verblasst in den Familien, da die Generation, die den Krieg bewusst erlebte, schwindet. Das Volk trauert nicht mehr – es sind nur noch wenige, die eine persönliche Erinnerung an Krieg und Terror haben und Opfer beklagen. Der Volkstrauertag muss im 21. Jahrhundert eine neue Bedeutung für die demokratische Gesellschacht gewinnen, soll er nicht zum leeren Ritual werden. Was bleibt: wer ein Konzentrationslager oder auch einen Kriegsgräberfriedhof heute besucht, erfährt hautnah die Schrecken von Mord und Krieg.

Daher kann ich heute auch dem Einsatz für die Pflege der Kriegsgräber viel abgewinnen. Der Rückblick in die Vergangenheit ist Auftrag für die Zukunft, sich einzusetzen, dass diese Gräuel nicht wieder geschehen. Gleichzeitig setzen heutzutage deutsche Soldaten bei UN-Einsätzen ihr Leben aufs Spiel – und sterben dabei. Die Klage um diese Opfer der Gegenwart mit dem Gedenken an die Toten der Vergangenheit zu verbinden – das ist die Aufgabe, der sich heute unsere Gesellschaft am Volkstrauertag stellen muss. Nur so ziehen wir die Lehren aus der Vergangenheit und geben den Opfern der Gegenwart einen Sinn – und Raum in unserer Gesellschaft.


Ralf-Peter Reimann ist Theologe und Redakteur bei evangelisch.de