Es dauerte Jahre, bis es herauskam, doch dann war es der Geschäftsleitung umso peinlicher. Die Hamburger Sparkasse (Haspa) sortierte jahrelang ihre Kunden nach Typen ein. Das bisherige Verhalten jedes Einzelnen wurde anhand eines Kriterienkatalogs dem Profil des "Abenteurers" zugeordnet, des "Bewahrers" oder des "Hedonisten", der sich etwa durch ausschweifenden Lebensstil auszeichnet. Je nach Profil agierten die meist nach Umsatz honorierten Berater beim Verkauf ihrer Produkte: Bestimmte Schlusselwörter wurden verwendet oder auch vermieden, weil Wissenschaftler festgestellt haben wollen, dass sich so die gewünschten Hirnareale aktivieren lassen. "Hirngerecht verkaufen und begeistern", betitelte laut "Süddeutscher Zeitung" ein Psychologe unlängst seinen Vortrag über das sogenannte Neuromarketing bei einer Sparkassen-Fachtagung.
Manipulation? Gewiss. Und bestimmt nicht die Form von Service, den die Haspa-Kunden sich im Gespräch über Geldanlagen erhoffen. Unzulässig? Womöglich in juristischer Hinsicht, in jedem Fall aber moralisch gesehen. Dass die Chefs des Kreditinstituts das Gewissen plagte, lässt ihr Zögern vermuten, ihre Marketingmethoden einzuräumen. Zunächst wurde schlicht dementiert, dann aber eilends das Löschen aller Datensätze und das Abschalten des "Sensus"-Systems versprochen.
Ist inzwischen alles egal?
Im 21. Jahrhundert rufen solche Ereignisse bei Vielen nur noch ein müdes Schulterzucken hervor. Weiß nicht das Internet sowieso schon alles über uns? Stellen nicht Hunderte Millionen Facebook-Nutzer ohne Not intime bis intimste Dossiers über sich selbst ins Netz, von denen Schnüffler früherer Jahre noch nicht einmal zu träumen wagten? Die gravierendsten Beispiele für das Netz, das sich um uns alle legt, liefert der unspektakuläre Alltag:
- Wer eine Googlemail-Adresse benutzt oder auch nur mit ihr korrespondiert, weiß (oder sollte wissen), dass die Inhalte aller Mails vollautomatisch auf für ein Personenprofil verwertbare Informationen durchforstet werden. Diese Profile liegen in privaten Händen - unkontrolliert und für alle Zeiten, denn die Datenbanken vergessen nichts.
- Der Name eines eBay-Accounts reicht, um die Geschäfte seines Trägers über Monate zurückzuverfolgen.
- Von Käufern erstellte Buchrezensionen beim Versandriesen Amazon geben nicht nur die Lesegewohnheiten der Autoren preis, sondern auch deren Werte und Ansichten.
- Beiträge in Internetforen verraten politische Positionen, Lebensumstände und - je nach sprachlicher Ausdrucksfähigkeit - ebenso den Bildungshintergrund dessen, der da schreibt.
- Unternehmen, die es sich leisten können, sortieren Mails und Kundenkommentare längst nicht mehr nur nach den Kriterien "Zustimmung" und "Ablehnung", sondern auch nach linguistischen Kriterien und Informationen über das Privatleben der Schreiber.
Es braucht Aufmerksamkeit - jederzeit
Ein großer Teil dieses Datenwusts fällt im Umgang mit der digitalen Welt unabsichtlich, oft auch unausweichlich an, und allein schon seine Existenz weckt Begehrlichkeiten. Als etwa das robotergesteuerte Erkennen von Autokennzeichen zur automatisierten Mauterhebung diskutiert wurde, versicherten die Verantwortlichen, das diese Daten selbstverständlich nicht für Überwachungszwecke verwendet werden würden. Doch kaum war die Technik installiert, folgte die Kehrtwende - und die Nummernscanner wurden als exzellentes Fahndungsmittel gepriesen.
Gesetze zum Umgang mit den Daten gibt es reichlich, auch wenn sie immer wieder neu der rasenden technischen Entwicklung angepasst werden müssen. Die EU-Kommission stellte soeben Pläne für ein neues europäisches Datenschutzgesetz vor, das vor allem grenzenlose Sammler wie Facebook, Google & Co. im Blick hat. Weltweite Standards sind freilich noch lange nicht in Sicht, und ohne sie bleibt der massenhafte Datenmissbrauch - je nach Ort des Firmensitzes - legal.
Was es aber noch mehr braucht als Gesetze sind kritische Bürger, die ein skrupelloses Verhalten wie das der Hamburger Sparkasse nicht bloß mit Schulterzucken quittieren; es braucht Entscheider, die sich im buchstäblich entscheidenden Moment an die Grundregeln von Respekt und Anstand erinnern; und es braucht bei allen das Bewusstsein dafür, dass man bestimmte Dinge einfach nicht tut.
Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.