TV-Tipp des Tages: "Kreutzer kommt" (ProSieben)

TV-Tipp des Tages: "Kreutzer kommt" (ProSieben)
Ein Handlungsort, eine einzige Nacht; aber zwei Morde. Und zwei Mörder. Das erste entdeckte Opfer ist die Sängerin eines Luxushotel-Nachtclubs. Kommissar Kreutzer ermittelt - auf seine Art.
28.10.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Kreutzer kommt", 1. November, 20.15 Uhr auf ProSieben

Dieser Kommissar ist so unscheinbar, dass man sein Erscheinen nicht mal bemerkt. Plötzlich ist er da, mitten unter den Verdächtigen, und hat bereits wichtige Eindrücke gesammelt, noch bevor es zur ersten Vernehmung kommt. Christoph Maria Herbst ist die Idealbesetzung für diesen Ermittler, der zunächst wie eine Hommage an Philip Marlowe wirkt, denn Kreutzer ist ein Chamäleon. Er trifft bei jedem Verdächtigen den richtigen Ton, und es ist jedes Mal ein anderer. Kreutzers Lieblingsrolle ist offenkundig die des Provokateurs, weil er dabei seinen messerscharfen Intellekt ausspielen kann, aber zur Not macht er sich auch zum kriecherischen Komplizen. Mal mimt er den Kokser, mal den Schwulen. Einen blinden schwarzen Musiker, der auf Ray Charles macht, lockt er aus der Reserve, indem er ihm abspricht, schwarz zu sein. Er flirtet, er schmeichelt, er reizt bis aufs Blut; und Herbst schlüpft mit Hingabe in all’ die unterschiedlichen Rollen.

Neben dem Hauptdarsteller stehen zwei weitere mehrfach ausgezeichnete Größen dafür, dass dieses Projekt etwas ganz Besonderes geworden ist: Das Drehbuch stammt von Christian Jeltsch, ausgezeichnet mit dem Deutschen Fernsehpreis („Bella Block: Das Glück der Anderen“) und dem Adolf-Grimme-Preis („Einer geht noch“), die Inszenierung besorgte Richard Huber, Grimme-Preisträger („Dr. Psycho“) und Regisseur eines mehrfach ausgezeichneten „Tatort“ aus Hamburg („Auf der Sonnenseite“). Aber Herbst, in praktisch jeder Einstellung im Bild, ist das Zentralgestirn der Produktion. Mit Lust lotet er den ganzen Facettenreichtum Kreutzers aus, einer Figur, von der ein Schauspieler nur träumen kann.

Jeltschs Geschichte funktioniert nach dem klassischen Agatha-Christie-Prinzip: ein Handlungsort, eine einzige Nacht; aber, wie sich erst später rausstellen wird, zwei Morde. Und zwei Mörder. Das erste entdeckte Opfer ist die Sängerin eines Luxushotel-Nachtclubs. Sie wird tot in ihrer Garderobe gefunden. Niemand darf das Etablissement verlassen. Kreutzer wandert nun von einem zum anderen und sammelt wie ein emotionaler Seismograf vor allem Gefühle. Ein ausgezeichnetes Ensemble sorgt dafür, dass die Nebenfiguren nicht bloß Stichwortgeber sind. Auch wenn alle Darsteller ihren großen Auftritt bekommen: Einige sind regelrecht verschwendet. Aber die populäre Besetzung (unter anderem Natalia Avelon als missgünstiges Gesangstalent, Ludwig Trepte als dealender homosexueller Kellner Roger, Leslie Malton als Hotelmanagerin und Rogers Mutter, was aber niemand wissen soll), ist die Voraussetzung dafür, dass alle Beteiligten als Täter in Frage kommen.

Trotz der Einheit von Zeit und Raum wirkt der Film dank des vielfältigen Drehorts (das Berliner Kempinski Hotel Bristol) nie wie ein Kammerspiel. Und Jeltschs komplexes Drehbuch ist die Garantie dafür, dass tatsächlich jeder der Anwesenden ein treffliches Motiv hätte. Mehrere der Menschen im Hotel gehören zu einem Unternehmen, dass Schürfrechte im Kongo besitzt, der Heimat der toten Sängerin; einer der Manager wird tot vor seinem Fenster gefunden. Nach und nach rekonstruiert Kreutzer ein Beziehungsgeflecht, in das alle Anwesenden verwickelt sind.

Die schillerndste Figur ist trotzdem der Ermittler selbst, der seine Fälle in Rekordzeit zu lösen pflegt. Und doch wäre er ohne seine Assistentin aufgeschmissen, denn sie ist ihm mitunter sogar einen Schritt voraus. Wie die wunderbare Rosalie Thomass mit ganz sparsamen Mitteln neben dem fast übermächtigen Herbst besteht, ist eine kleine Meisterleistung. Wer nach diesem Film Lust auf noch mehr Herbst hat: ProSieben zeigt im Anschluss fünf „Stromberg“-Folgen.


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).