Ein Wunder in der Atacama-Wüste geht so: Ein kleiner weißer "Schmetterling" hat dem in Chile verschütteten Bergmann Franklin Lobos das Leben gerettet. Davon ist seine Schwester Magdalena fest überzeugt. "Wir sind eine sehr gläubige Familie, müssen sie wissen", sagt sie. Die Angst um die Verschütteten und vielleicht auch die unwirkliche Schönheit der trockensten Wüste der Welt lassen Frömmigkeit und Wunderglauben blühen. Im Lager Esperanza (Hoffnung), in dem die Angehörigen und immer mehr Journalisten in Zelten campieren, hängen an allen Ecken und Enden Aufrufe, für die Eingeschlossenen zu beten.
Franklin fuhr am 5. August mit einem Lastwagen in die Mine hinunter, als der Stollen direkt hinter ihm einstürzte. Der frühere Profifußballer konnte vor lauter Staub die Hand nicht mehr vor Augen sehen, gab aber dennoch Gas und erreichte den 500 Meter tiefer gelegenen Fluchtraum über kilometerlange kurvige Stollengänge unbeschadet. "Er wurde von einem kleinen weißen Licht mit der Form eines Schmetterlings geleitet", erzählt Magdalena. So habe es ihr Bruder in einem der vielen Briefe aus der Tiefe geschildert. "Ich weiß nicht, was das Licht war, aber für mich war es ein Schutzengel", sagt die 63-Jährige.
Scherzbotschaften für die Eingeschlossenen
Am Vortag hatten die Verschütteten dem Wunder der bevorstehenden Rettung mit Sprengstoff nachgeholfen. "Sie haben Gestein weggesprengt, das bei der Rettung gestört hätte", berichtet Magdalena vom wohl letzten Gespräch per Bildtelefon mit ihrem Bruder in der Tiefe, bevor sie ihn wieder in die Arme schließen kann. "Er sah viel besser aus als vor dem Unglück. Blass, schlanker und irgendwie jünger", erzählt sie von ihren Eindrücken während des Gesprächs. Nur drei Minuten dürfen solche Gespräche dauern. Gerne hat sie ihm auch Witze in die Tiefe geschickt: "Auf der Erde warst Du hier in Chile ein berühmter Fußballer. Aber um weltberühmt zu werden, musstest du erst unter die Erde kommen."
Dann zieht sie einen kleinen mehrmals gefalteten Brief aus der
Hosentasche: "Der ist von meinem Bruder. Ich habe von Anfang bis Ende geweint, als ich ihn das erste Mal gelesen habe." Darin spricht der 53-Jährige seine Schwester als Mami an und schließt mit: "Ich liebe Dich, Dein Sohn Kaky". Sie sei zehn Jahre alt gewesen, als ihr Bruder geboren wurde und habe ihrer Mutter geholfen, ihn aufzuziehen: "Dass er sich an all das noch erinnert und es anerkennt, hat mich so bewegt. Wir werden durch die monatelange Trennung als Familie viel enger zusammenwachsen", ist sie sich sicher.
Nie wieder Bergbau
Nach der Rettung will Magdalena mit der Familie zusammen ein großes Fest mit ihrem "wiedergeborenen" Bruder feiern. "Das werden so um die 70 Personen, ich allein habe ja schon sechs Kinder, 27 Enkel und sechs Urenkel", sagt die recht jung wirkende Frau und lacht. Was danach kommt, weiß sie noch nicht. Aber eines sei ganz sicher: "Er wird nie, nie, nie wieder unter Tage arbeiten."
Als die Eingeschlossenen live unter Tage das Freundschaftsspiel Chile-Ukraine sahen, habe ihr Bruder den Kommentator gemacht. "Jetzt hat er aus diesem Bereich schon Arbeitsangebote, auch ein Posten als Fußballtrainer steht in Aussicht. Aber vielleicht werde er auch einfach weiter einen Lastwagen fahren - oberirdisch.
Auf die insgesamt 1600 Mitarbeiter von knapp 200 Medien aus mehr als 30 Ländern, die direkt von der Mine berichten, ist Magdalena ein wenig stolz. Das zeige doch, wie einzigartig die Geschehnisse seien. Und dann erklärt sie die Reporter gleich noch zu einem Werkzeug Gottes: "Der ist weise und hat euch geschickt, damit alle Ungläubigen dieser Welt von diesem Wunder erfahren und zum Glauben finden."
"Jesus liebt dich"
Die wohl ungewöhnlichste und aufwendigste Rettungsaktion in der Geschichte des Bergbaus hat nicht nur Hunderte Journalisten aus aller Welt auf den Plan gerufen. Auch religiöse Gruppen haben Konjunktur. Auf zahlreichen Plakaten wird zum "Beten für die Kumpel" aufgerufen, Felsen sind mit dem Spruch "Fuerza Mineros" (Habt Kraft, Bergleute) bepinselt. "Du hast einen Freund, der dich liebt, und der heißt Jesus", singt ein hagerer Mann mit ernstem Ausdruck zur Gitarre, während ein Fernsehmann zufrieden über die tollen Bilder lächelt. Vor der skurrilen Szene unterm Partyzeltdach baumelt ein Schild der Adventisten.
Die Angehörigen halten sich eher etwas abseits von dem Trubel und warten nun auf die endgültige Bergung. Viktor hat zum Beispiel von seinem Angehörigen in der Tiefe schon ein paar Erinnerungsstücke bekommen. "Kleidung, Zeitschriften, Briefe, alles Mögliche hat er sozusagen schon mal vorausgeschickt, bevor er selbst bald wieder bei uns ist", sagt er. "Wenn alle glücklich gerettet sind, wollen wir hier bei der Mine eine Riesengrillparty feiern", erzählt ein anderer Angehöriger, Alonso Canteras, und reibt sich die klammen Hände über dem Kohlenfeuer, das in einem alten Ölfass glimmt.
Keine Formulierung scheint dramatisch genug, um bei dieser Geschichte von Schmerz, Tränen und Hoffnung nicht verwendet zu werden: "Jetzt ist der Augenblick nahe, an dem die Erde die 33 Helden gebären wird", sagt ein chilenischer Fernsehreporter. Und keiner lacht.