TV-Tipp des Tages: "Takva - Gottesfurcht"

TV-Tipp des Tages: "Takva - Gottesfurcht"
Die Welt des Lagerarbeiters Muharrem gerät aus den Fugen, als er für höhere Aufgaben ausgewählt wird. Arte zeigt einen Film, der mehr ist, als Kritik am Islam.
30.09.2010
Von Tilmann P. Gangloff

"Takva - Gottesfurcht" , Donnerstag, 30. September, 20.15 Uhr bei Arte

An diesem Gläubigen hat Allah ohne Frage ein Wohlgefallen. Muharrem ist ein Mann von religiösen Prinzipien. Seit Jahr und Tag arbeitet er als Lagerverwalter eines Sackhändlers: voller Gottvertrauen und in konsequenter Verleugnung individueller Bedürfnisse. Diese beinahe klösterliche Lebensweise, das den Mitgliedern eines nahe gelegenen Ordens zum Vorbild diene könnte, hat die Aufmerksamkeit des Leiters dieser zutiefst konservativen Sekte geweckt. Er ernennt Muharrem zum Gutsverwalter. Fortan soll er die Miete für die quer durch Istanbul verstreuten Wohnungen und Werkstätten einsammeln. Zum ersten Mal verlässt der einfältige Mann die schützende Welt seines Viertels und lernt ein Leben kennen, in dem ihm die nach wie vor in ihren Wurzeln verhaftete Religion nicht mehr weiterhilft. Hin und hergerissen zwischen Tradition und Moderne wird er buchstäblich irre.

Regisseur Özer Kiziltan will "Takva" (Gottesfurcht) jedoch keineswegs nur als Kritik am Islam verstanden wissen: "Alle Ideologien und Religionen, die jegliche Individualität verleugnen, führen zur Unterdrückung und Ablehnung des Humanismus und Rationalismus. Dies mündet früher oder später im Wahnsinn". Tatsächlich hätte Muharrem sein Leben unbehelligt bis zum Tode weiterführen können. Für Irritationen im Alltag sorgen zunächst allenfalls die hartnäckigen erotischen Träume, die ihn regelmäßig zutiefst beschämt zurücklassen. Doch gerade in der Einfältigkeit des Mannes liegt die Ursache für sein Scheitern: Weil er streng nach uralten islamischen Regeln lebt, die Nichtwissen für eine Tugend halten, findet er in der Lehre keine Antworten auf die Fragen des heutigen Lebens.

"Takva" ist Kiziltans Regiedebüt, und nicht nur aus diesem Grund ist der Film beachtlich. Die Kamera verfolgt zwar Muharrem (Erkan Can) auf Schritt und Tritt, doch der Blick weitet sich immer wieder für bizarre Rituale, bei denen die Teilnehmer mit Hilfe rhythmische Gruppengesänge regelmäßig in religiöse Verzückung verfallen. Kiziltan zeigt die orgasmische Ekstase in immer schnellerer Schnittfolge, bis Muharrem schließlich tatsächlich aus einem feuchten Traum erwacht. Für Drehbuchautor Önder Cakar unterscheidet sich Muharrem letztlich nicht von einem Selbstmordattentäter: "Der Wert eines menschlichen Lebens wird verneint, wenn eine Person die Welt als bloße Täuschung und den Tod als Anfang und nicht als Ende sieht. Der erste Schritt, dies zu ändern, ist, sich am Leben zu freuen".


Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" und verschiedene Tageszeitungen mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).