Kino auf dem Dorf: Jennifer Aniston, dazu ein Schnitzel

Kino auf dem Dorf: Jennifer Aniston, dazu ein Schnitzel
"Solange ich Filmrollen heben kann, mach ich das", sagt Helmut Göldner. Er zieht über Land und führt in Gasthäusern Filme vor. Sein mobiles Kino erscheint wie übrig geblieben aus einer besseren Zeit. Die Menschen lieben ihn. Und andere Kinos sind nicht in der Nähe.
29.09.2010
Von Nils Husmann

"Kommt doch sowieso keiner!" Es ist nicht nett, was Rita Göldner sagt, als ihr Mann das Hoftor zur Straße öffnet. Gleich will er los, nach Molmerswende. Das ist fast schon im Harz, 60 Kilometer weit weg, eine Stunde Fahrt über kurvige Landstraßen. Aber immerhin, Rita Göldner lächelt, und Helmut Göldner beschwert sich auch gar nicht, sie hat ja recht, irgendwie. "Hast du die Filmrollen?", fragt sie. "Ja, ja", sagt Göldner, steigt in seinen 18 Jahre alten VW-Bus, lässt den Diesel vorglühen und fährt los. 

Kleine Dörfer großes Kino from Patrice Kunte on Vimeo.

Helmut Göldner lebt in Edlau, Ortsteil Sieglitz, einem Dorf nahe der Autobahn 14, nördlich von Halle an der Saale. Auf dem Weg nach Molmerswende orientiert er sich an Orten, die es nicht mehr gibt. Er zählt die Kinos auf, die aufgeben mussten. Könnern, Alsleben an der Saale, Sandersleben. In Hettstedt, auf halbem Weg nach Molmerswende, klopft Göldner aufs Lenkrad. "Hettstedt: zwei Kinos, und nun keines mehr! Auch in Wolfen – alles weg." In der Gegend, in der Helmut Göldner lebt, sind die Kinos fast ausgestorben. In Köthen, Aschersleben und Bernburg gibt es noch welche, in Halle auch ein Cinemaxx, ein riesiges Kino. Aber so was mag Göldner nicht. Im Grunde ist es gut für Helmut Göldner, dass es so wenige Kinos gibt, weil er das Kino ist. Schon kurz nach dem Fall der Mauer, als er noch beim Bezirksfilm arbeitete, meldete er sein eigenes Gewerbe an – "Mobiles Kino Göldner".

Den Landfilm gab es überall

Die erste Filmmaschine kaufte er einer Hallenser Polizeiwache ab. "Das war eine richtige Marktlücke, das ist super gelaufen." Die Leute kannten ihn ja noch, den Kinomann, der in der DDR den Landfilm machte, der von Dorf zu Dorf fuhr und Filme zeigte. Den Landfilm gab es überall in der DDR, um die Menschen noch in abgeschiedenen Regionen mit Arbeiter- und Bauernfilmen zu berieseln. Helmut Göldner, ein kleiner Mann, graue Haare, dunkle Augenbrauen, verschmitztes Gesicht, nahm den politischen Auftrag nicht immer ganz ernst, "ich habe russische Filme abgerechnet und ‚Dirty Dancing" gezeigt". Und das vor vielen Menschen, manchmal vor Hunderten, oft kamen Kinder zu den Vorführungen, die noch nie in einem Kino waren, nur bei ihm.

Das ging auch 1990 so weiter, nach der Wiedervereinigung. Helmut Göldner investierte mit seiner Frau in ein Autokino, kaufte den VWBus, um auf Marktplätzen Kino zu machen, das Gerät stand im Wagen. Und immer kamen die Menschen. Die Freilichtveranstaltungen, sagt er, laufen auch noch einigermaßen. Aber in den kälteren Monaten, wenn er in Gasthäusern und Gemeindezentren spielt? Kommt doch sowieso keiner, sagt seine Frau. Als Helmut Göldner seinen VW-Bus vor dem Gasthof "Zur Tenne" in Molmerswende parkt, ist der große Parkplatz leer. Es ist 15 Uhr, um 16 Uhr fängt die Kindervorstellung an. Nach Molmerswende kommt er oft, seit "Pearl Harbor", 2001. Damals hatte Hennry Strache, der Wirt, ihn immer wieder angerufen und gefragt, ob er nicht kommen möchte. Eigentlich wollte er nicht, Molmerswende hat nur 250 Einwohner, viel zu klein. Aber so Leute wie Strache mag Helmut Göldner; Leute, die sich abstrampeln, die den Menschen etwas bieten wollen.

Schlager von Andrea Berg

Er bekommt den Eintritt, die Wirte verdienen, weil sie Essen und Getränke verkaufen, das ist der Plan. Er geht nur noch selten auf. In der "Tenne" hat der Wirt schon alles vorbereitet. Die Filmmaschine, eine Meo 5, "Made in Czechoslowakia", steht mannshoch auf einem Gestell, schräg vor der Theke. Kabel führen in den Saal des Gasthofs, der so groß ist wie eine Turnhalle. Sie enden an den Lautsprecherboxen, die links und rechts neben der Leinwand stehen, am Saalende, auf der Bühne. Die großen Fenster sind alle verdunkelt. Helmut Göldner rollt die Filmrolle herein, als würde er einen Fahrradreifen vor sich her bugsieren. Bis die ersten Gäste kommen, spielt er Musik. Schlager von Andrea Berg wummern durchs Gasthaus.

"Du hast mich tausend Mal belogen, du hast mich tausend Mal verletzt." "Dafür muss ich GEMA-Gebühren bezahlen", sagt Göldner, "das ist der Unterschied im Kapitalismus: Früher wurde alles bezahlt, jetzt muss ich für alles zahlen." Natürlich auch für die Filme, die Hälfte seiner Einnahmen bekommt der Verleiher. Wie viele Zuschauer Göldner hat, lässt sich anhand seiner Karten feststellen; "Mobiles Kino Göldner" steht darauf. Es gibt nur einen Hersteller für diese Karten, in Hamburg, alles ist durchnummeriert. Die rosa Coupons liegen als Rolle auf der grauen Kasse, Göldner hat sie auf einen Tisch neben die Vorführmaschine gestellt. Er wartet, dass die Kinder kommen. "Drachenzähmen leicht gemacht" heißt der Film, den er mitgebracht hat, er läuft zur selben Zeit auch in den großen Kinos. Anders geht es nicht, der Kinomann muss den Massengeschmack bedienen, auch wenn er Animationsfilme nicht mag. "Da lernen die Kinder nichts mehr, damit kann man sie nicht erziehen."

In alten Zeiten

Nach und nach kommen die ersten Kinder, einige haben ihre Eltern dabei. "Wo muss ich bezahlen?", fragt eine Mutter, "ich komme an den Tisch", antwortet Helmut Göldner. Als er die Filmmaschine anwirft, kommt erst mal Werbung für Kinofilme, die bald anlaufen. Mit einem sachten Fußstoß gegen das Gestell richtet er das Bild auf der Leinwand noch einmal kurz aus. Dann nimmt er seine Kasse und geht kassieren, Kinder drei, Erwachsene vier Euro. 13 Kinder sind gekommen, und neun Erwachsene. 75 Euro Umsatz. Kurz darauf, die Werbung läuft noch, sitzt Helmut Göldner im Büro des Gasthauses, es liegt zwischen Theke und Küche. Durch die offene Tür flimmert das Bild, manchmal huscht eine Gestalt vorbei, duckt sich unter dem Licht der Filmmaschine hindurch, mit einem Tablett in den Händen. Straches Frau, sie bedient die Gäste.

Sofort sind Göldner und Hennry Strache, der Wirt, wieder in den alten Zeiten. Draußen im Saal dröhnt eine Stimme, sie wirbt für einen Film, in dem "die ganz großen Träume wahr werden". Im Büro sagt Helmut Göldner: "Wir alten Säcke trauern unserer DDR-Zeit nach." Früher habe es viel mehr Zusammenhalt gegeben, wenn es nach einer Vorführung heftig regnete, habe man ihm gleich ein Bett angeboten. "Mensch, willste nicht bei uns übernachten? Das fragt heute keiner mehr." Er macht eine Pause. "Oh!", ruft er und macht große Augen, "ooooh, was haben wir gefeiert!" Er lacht und klingt dabei wie Louis de Funès. Hennry Strache, seit 15 Jahren Bürgermeister in Molmerswende, nickt mit dem Kopf: "Und Nachbarschaftsstreitigkeiten – so was gab es früher nicht." Göldner hat seine eigene Theorie entwickelt, warum die Zeiten schlechter sind und die Gäste ausbleiben: der Euro, die neue Währung, die alles teurer gemacht, und Hartz IV, die Arbeitsmarktreform, die den Leuten das Geld genommen habe. Strache: "Das A und O ist die Arbeit. Die Leute fragen sich nicht mehr: ‚Wie geht"s dir?", die fragen: ‚Und, hast du Arbeit?""

Mit und ohne Arbeit

Göldner sagt: "Bei Familienfesten bilden sich zwei Gruppen: die mit und die ohne Arbeit." Nach den Vorführungen finde er häufig Chipstüten und Getränkeverpackungen von Aldi, die Leute hätten kein Geld mehr, sich Pommes und Cola im Wirtshaus zu kaufen. Draußen im Saal hat "Drachenzähmen leicht gemacht" angefangen, der Film spielt auf einer Wikingerinsel und handelt davon, dass der Sohn eines berühmten Drachenfängers zu ängstlich ist, um seinem Vater nachzueifern. "Hör auf jemand zu sein, der du nicht bist", rät ihm eine weise Gestalt.

Am Ende schafft es der Junge mit seiner sanften Art, die wildesten Drachen zu zähmen. Als der Film nach mehr als eineinhalb Stunden zu Ende geht, leuchten die Augen der Kinder. Ein Mädchen stupst draußen den Vater an, der das neue Auto seines Kumpels auf dem Parkplatz bewundert. "Du, Papa, was wäre denn, wenn der schwarze Drachen nicht so lieb gewesen wäre?" Drinnen bleibt Göldner nicht viel Zeit, die 18-Uhr-Vorstellung vorzubereiten. Er muss "Drachenzähmen leicht gemacht" wieder auf die Filmrolle zurückspulen, die Rolle in den VW-Bus bringen und den neuen Film holen, "Der Kautions-Cop". Verglichen mit früher, sagt er, ist das kein großer Aufwand. "Früher war Kino richtige Arbeit, es brauchte zwei Maschinen, weil man den Film wechseln musste."

Seit 50 Jahren Kino

Helmut Göldner, 66 Jahre alt, macht seit über 50 Jahren Kino. Schon als Jugendlicher half er einem Filmvorführer, später wurde er Facharbeiter für Filmwiedergabetechnik, selbst bei der Nationalen Volksarmee war er fürs Kino zuständig. Wie viele Filme er gesehen hat, hat er irgendwann nicht mehr mitgezählt. Und viele, sagt er, sieht er sich auch nicht mehr an. Er macht dann lieber ein Nickerchen in seinem Bus. Oder spricht mit Leuten wie Hennry Strache. "Der Kautions-Cop" ist auch so ein Hollywood-Streifen, wie Göldner sie nicht mag. "Aber ich muss die Filme spielen, die unter den fünf Meistgeguckten sind, der Rest lohnt sich nicht." Zur 18-Uhr-Vorstellung kommen zwei junge Frauen. Göldner macht acht Euro Umsatz, er hat auch nicht mehr erwartet, so läuft das schon seit Jahren, auch wenn die frühe Abendveranstaltung selten ausverkauft war.

"Früher war es wenigstens halbvoll." Zu Zeiten von "Titanic" etwa, 1998 war das, es war der meistbesuchte Film in Göldners Kinogeschichte. Aber auf die 18-Uhr-Vorstellung verzichten und bis zur 20-Uhr-Vorstellung gar nichts machen? "Ich mache ja auch Kino, um meine Filmmaschinen in Gang zu halten, die müssen laufen", sagt er, die Augen blinzeln, als wolle er hinzusetzen: und ich muss es auch. Zwei Stunden später, um 20 Uhr, sind 19 Gäste da. Immerhin: an drei Tischen sitzen Menschen, trinken Bier, essen Schnitzel, während Gerald Butler seine Exfrau, gespielt von Jennifer Aniston, 110 Minuten lang ins Gefängnis zu bringen versucht, gegen Belohnung. Der Hollywood-Hochglanz wirkt überall unwirklich, zwischen Hirschgeweihen und Türmchen aus leeren Kümmerling-Flaschen ist die Hatz der schönen Schauspieler surreal. Während der Film das zweite Mal läuft, bekommt Helmut Göldner nicht viel davon mit.

Filmplakate einsammeln

Nachdem er 76 Euro von seinen Kinobesuchern eingenommen hat, muss er los, die Filmplakate wieder abhängen. Er hat sie in den Orten rund um Molmerswende aufgehängt, zusätzlich hatte er die Termine an kostenlose Anzeigenblätter verschickt, für die Veranstaltungstipps. "An die Tageszeitung gebe ich die Vorführungen gar nicht mehr", sagt er, "die abonniert ja kaum noch jemand, die kostet ja Geld." Kinderfilme bewirbt Göldner gern an Schulbushaltestellen, das Programm für die Abendveranstaltungen platziert er häufig auf Supermarktparkplätzen, damit die Leute es beim Einkaufen sehen. Es ist ein Rennen gegen die Zeit, der Kinomann muss zurück sein, bevor der Film aus ist.

Wenn er ein Plakat entdeckt hat, hält er an, schaltet in den Leerlauf, zieht die Handbremse an, lässt den Motor laufen. Er hüpft aus dem Bus, hoppelt zum Plakat, löst den Draht von den Laternenmasten und Zäunen, nimmt die Plakate ab, hoppelt zurück und wirft sie nach hinten in den Bus. Nie, sagt der Kinomann, sei ihm jemand blöd gekommen, dass er seine Plakate nach Gutdünken aufhänge. Nur aus Harzgerode, zehn Kilometer von Molmerswende entfernt, kam einmal ein Brief von der Stadtverwaltung. Er brauche eine Genehmigung. Helmut Göldner hat zurückgeschrieben, dass er Kino mache für Kinder und sozial Schwache, die sich die Fahrt in die großen Kinozentren nicht leisten können. "Von denen habe ich nie wieder etwas gehört."

Als Göldner wieder im Gasthof "Zur Tenne" ankommt, ist der Film fast vorbei. Die Filmmaschine rattert. Wenn man direkt daneben steht, tackert sie fast so laut wie ein Rasenmäher. Erst weiter hinten im Saal verliert das Geräusch gegen die Dialoge, die aus den Boxen kommen. Der Kautions-Cop hat seine Exfrau nun doch noch ins Gefängnis gebracht, aber die Zuschauer spüren: Die Liebe ist trotzdem wieder neu entflammt. Happy End. Gleich kann der Kinomann die Filmrolle zurückspulen. Seine Frau sage ihm immer wieder, er solle endlich aufhören. "Aber solange ich die Filmrollen heben kann, mach ich Kino." Als der Film vorbei ist, muss er nur kurz an der Filmrolle ruckeln, dann hebt er sie sachte aus der Halterung und setzt sie ganz langsam auf den Boden. Den restlichen Weg zum Bus, draußen auf dem Parkplatz, braucht er sie nur zu rollen.


Der Text stammt aus dem christlichen Monatsmagazin "chrismon". Nils Husmann ist Redakteur bei "chrismon".