Der Runde Tisch ist für Heimkinder eine "einmalige Chance"

Der Runde Tisch ist für Heimkinder eine "einmalige Chance"
500 Kilometer sind es nach Berlin, rund 250 bis ins fränkische Neuenmarkt-Wirsberg, wo die Hensoltshöher Diakonissen in den 60er Jahren das "Mädchenheim Ruth" betrieben. Sonja Djurovic wohnt bei Frankfurt am Main, weit weg von beiden Orten. Doch beide bestimmen ihr Leben: Djurovic ist eine der Opfer-Vertreterinnen am Runden Tisch Heimerziehung.
19.09.2010
Von Bettina Markmeyer

In Berlin tagt seit Februar 2009 der Runde Tisch Heimerziehung, der die gewalttätigen Erziehungspraktiken in den Heimen der 50er und 60er Jahre aufklären soll. Zu Wochenbeginn ist die vorletzte Sitzung angesetzt. Sonja Djurovic vertritt in der Runde mit zwei weiteren ehemaligen Heimkindern und ihren Stellvertretern die Opfer.

Das "Mädchenheim Ruth" gibt es nicht mehr. Aber in Neuenmarkt-Wirsberg stehen noch die Gebäude, in denen die lebenshungrige und verträumte Sonja dreieinhalb Jahre verbringen musste. Diese Jahre haben ihr das Brandzeichen in die Seele geprägt, das sie nie wieder losgeworden ist und das sie die längste Zeit ihres Lebens zu verbergen bemüht war: Heimkind.

Mit ihrer Arbeit am Runden Tisch ist die 61-Jährige aus der Anonymität herausgetreten. In ihrem rot gestrichenem Arbeitszimmer sammeln sich Papiere und Bücher, in der sonnigen Küche liegt die Akte auf dem alten Küchenschrank - ihre Akte, "ein Glücksfall, dass sie nicht vernichtet ist", sagt sie.

"Das war Unrecht im Rechtsstaat"

Im Juli hatten Sonja Djurovic und zwei weitere Heimkinder-Vertreter die Forderung nach einer Opfer-Rente von 300 Euro monatlich ins Gespräch gebracht. Sie waren die Ersten am Runden Tisch, die eine Summe nannten. Inzwischen fordern die Opfer-Vertreter übereinstimmend eine Rente oder Einmalzahlungen als Entschädigung für die traumatisierenden Folgen der Heimerziehung. Milliardenforderungen, wie sie der Verein ehemaliger Heimkinder erhoben hat, aus dem Djurovic ausgetreten ist, erhebt sie nicht. Sie muss sich dafür am Telefon und im Internet als Verräterin beschimpfen lassen.

Sonja Djurovic ist ungeduldig. Was vielen der insgesamt rund 800.000 Kinder und Jugendlichen in den kirchlichen und staatlichen Heimen der frühen Bundesrepublik widerfahren sei, die Demütigungen, Prügel, sexueller Missbrauch, Isolation und die vorenthaltene Ausbildung, müsse aus ihrer Sicht als Menschenrechtsverletzung anerkannt werden, sagt sie: "Das war Unrecht im Rechtsstaat", sagt sie. Sie will außerdem Entschädigungszahlungen für die Arbeitspflicht in den Heimen. "Für uns war es Zwangsarbeit", sagt sie. Als Schneiderlehrling hat sie sechs Tage in der Woche für ein paar Mark im Monat nähen müssen, es kamen Aufträge aus der Industrie oder von Krankenhäusern.

Kein Vergleich mit NS-Opfern gewollt

Die Moderatorin des Runden Tisches, die Grünen-Politikerin und vormalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer, hat unterdessen deutlich gemacht, dass über symbolische Entschädigungen geredet werde, und die Summen in Erinnerung gerufen, die die Stiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" an ehemalige NS-Zwangsarbeiter gezahlt hat. Sie liegen zwischen 2.500 und 7.500 Euro pro Person.

Für Menschen, die seit ihrer Kindheit das Brandmal "Heimkind" tragen, ist das schwer zu verkraften. Niemals würde sich Sonja Djurovic mit NS-Opfern vergleichen. Ihr Vater, ein Ukrainer, war Zwangsarbeiter. Doch hat die Zeit im Heim sie ihrer Lebenschancen beraubt. "Das macht mich unglücklich", sagt sie. "Ich hatte ganz andere Vorstellungen von meinem Leben." Sie wollte aufs Gymnasium, schreiben, studieren. Sie wollte tanzen, ins Theater gehen.

Der Runde Tisch ist eine "einmalige Chance"

Stattdessen saß sie an der Nähmaschine, Musik war verboten, Radiohören, selbst Reden war untersagt. Unvorbereitet auf das Leben wurde sie 1968 entlassen. Schneiderin wollte sie nie werden. Sie hat in Kneipen gearbeitet, gejobbt, war schließlich bei einer Bank angestellt. Was sie dafür brauchte, hat sie sich selbst beigebracht. Viele der ehemaligen Heimkinder, von denen noch rund 500.000 leben, "sind ganz unten", sagt sie. "Sie hatten nie gute Jobs. Viele leben von Hartz-IV-Leistungen." Sie selbst bezieht eine Rente, mit der sie gerade so auskommt.

Manchmal meint Sonja Djurovic, die seit einem Autounfall eine Krücke benutzen muss, den Anstrengungen kaum standhalten zu können, aber sie hält durch: "Das ist ein wichtiger Abschnitt in meinem Leben", glaubt sie. Ihre Erwartungen sind hoch, zu hoch, fürchtet sie. Ihre Angst vor einer Enttäuschung ist groß. Dennoch sieht sie den Runden Tisch als "einmalige Chance, etwas zu erreichen". Es gehe nicht mehr nur um Einzelschicksale, sagt sie: "Es geht jetzt um die Sache."

epd