Was ist aus der natürlichen Geburt geworden?

Was ist aus der natürlichen Geburt geworden?
Geburtshäuser stehen heutzutage als Synonym für natürliche Geburten ohne Krankenhauseinweisung. Doch viele werdende Mütter entscheiden sich lieber für die Sicherheit in Kliniken.
07.09.2010
Von Katrin Wienefeld

Es geht beschaulich zu in dem Hinterhof in Ottensen, einem angesagten Viertel der Großstadt Hamburg. Efeuberankte Gebäude stehen hier, wo ein Radgeschäft solide Fahrräder anbietet, sich die Gesprächgruppen des Vereins Väter e. V. treffen und die Fenster des Kinderladens Panini bunt bemalt sind. Besucher bewundern diese Idylle – meistens. Doch dann passiert es: Schreie schallen durch den Hof. Nicht-Eingeweihte sind irritiert, denn was sie nicht wissen ist, dass in einem der Häuser das Geburtshaus Hamburg liegt. Rund 120 Frauen entbinden dort jedes Jahr, und natürlich müssen sie während der Geburten manchmal ihre Schmerzen raus schreien.

Geburtshäuser stehen heutzutage als Synonym für natürliche Geburten ohne Krankenhauseinweisung und mit wenig medizinischem Gerät. "Ich finde es positiv, dass wir nicht abgeschottet arbeiten, sondern im Viertel integriert sind. Eine Geburt ist der natürlichste Vorgang der Welt, es gehört zum Leben dazu und es ist gleichzeitig das wunderbarste und faszinierendste Ereignis, das man sich vorstellen kann", sagt die 29-jährige Geburtshaushebamme Anna Braun. Rund 100 dieser Häuser gibt es mittlerweile in Deutschland, sie werden ausschließlich von Hebammen geführt. Das Entbindungszimmer im Ottensener Hinterhof wirkt wie ein gemütlicher Schlafraum mit King-Size-Doppelbett, hellen Vorhängen und Sessel für den Partner. Nur im Bad steht eine ungewöhnlich große Wanne - die Gebärbadewanne.

Eigentlich müssten diese Orte für eine Geburt zum aktuellen Trend hin zu einer neuen Natürlichkeit passen, vor allem in Großstädten. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nur knapp drei Prozent aller Schwangeren in Deutschland wählen ein Geburtshaus für die Niederkunft aus. Von den mehr als 682.500 Neugeborenen im Jahr 2008 kamen rund 662.780 in einem Krankenhaus zur Welt. Fast jedes dritte Baby wurde sogar per Kaiserschnitt geholt. Sind Schwangerschaft und Geburt heutzutage zu einer Art Krankheit geworden, die in der Klinik behandelt werden müssen?

Werdende Mütter sind auf Sicherheit bedacht

"Auch wenn die meisten Schwangerschaften heutzutage ohne Probleme verlaufen, ist die Geburt einer der gefährlichsten Momente im Leben, Komplikationen sind nie vorherzusehen. Deswegen rate ich Frauen, in einer Klinik zu entbinden, ob ambulant oder stationär", sagt etwa Wolfgang Cremer, Gynäkologe und Hamburger Landesvorsitzender des Berufsverbandes der Frauenärzte. Zugleich beobachtet der praktizierende Frauenarzt, dass werdende Mütter sehr auf Sicherheit bedacht sind. "Heute bekommen Frauen in Deutschland im Schnitt ein bis zwei Kinder. Diese Kinder sollen gesund zur Welt kommen und die Geburten möglichst gut und sicher ablaufen", sagt Cremer.

Tatsächlich ist in Deutschland die Müttersterblichkeitsrate seit den 50er Jahren enorm gesunken. Zurzeit liegt die Rate bei vier bis sieben Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten. Zum Vergleich: In Tansania liegt die Müttersterblichkeitsrate bei 950 Frauen (Quelle: Deutsche Stiftung Weltbevölkerung). Mediziner sind sich einig, dass die Todesfälle in Entwicklungsländern zu 80 Prozent auf Komplikationen während der Geburt und Mangel an professioneller Geburtshilfe zurückzuführen sind. Die Müttersterblichkeit ist Indikator für die Qualität der Geburtshilfe eines Landes.

Das Geburtszentrum im Albertinen-Krankenhaus, dem größten evangelischen Krankenhaus in Hamburg, ist eine beliebte Adresse für werdende Mütter in der Hansestadt. Rund 2.000 Kinder kommen hier jährlich zur Welt. Oberarzt Dr. Andreas Gross, der seit 15 Jahren als Geburtshelfer praktiziert, beschreibt den ärztlichen Ansatz so: "Wir wollen jeder Frau eine sanfte und natürliche, also vaginale Geburt ermöglichen und das in einer angenehmen Atmosphäre. Wenn die Schwangeren sich wohlfühlen, tauchen viele Probleme erst gar nicht auf." Vor einer Entbindung werden die Frauen beraten und können entscheiden, ob sie ambulant gebären und nach sechs Stunden die Klinik verlassen oder stationär im Zentrum bleiben wollen.

Frauen können bestimmen, wie sie gebären wollen

Wie in anderen modernen Geburtskliniken erinnert in den fünf Kreißsälen des Albertinen-Zentrums nichts mehr an alte Zeiten. Noch vor wenigen Jahrzehnten fanden Geburten in deutschen Krankenhäusern fast ausschließlich im Liegen statt, Patientinnen hatten kaum Mitspracherechte und der Partner hatte draußen zu warten. Heute können Frauen selbst bestimmen, wie sie gebären wollen. In den Entbindungsräumen des Albertinen-Geburtszentrums gehören Gebärhocker und Badewannen für eine Wassergeburt zur Standardausrüstung, es liegen Matten oder Gymnastikbälle auf den Böden, an den Wänden hängen Seile und Sprossenwände zum Festhalten.

Während der Geburtsphase kann akupunktiert werden und schmerzstillende Mittel werden nur auf Wunsch verabreicht. Ist das Baby auf der Welt, wird es sofort auf den Körper der Mutter gelegt. Dieses so genannte Bonding, die sofortige Nähe, prägt eine besondere Bindung zwischen Mutter und Kind. Früher dagegen wurde ein Säugling erst gewaschen und angezogen, bevor er zur Mutter durfte. "Alles, was eine natürliche Geburt unterstützen kann, setzen wir ein", sagt Geburtshelfer Gross.

Doch trotz der sehr viel besseren Bedingungen für Frauen, Kinder auf natürlichem Weg zur Welt zu bringen, liegt die Kaiserschnittrate hierzulande bei rund 30 Prozent. Die Gründe dafür liegen vor allem im Alter der werdenden Mütter. Frauen bekommen heute immer später Kinder, damit steigt die Zahl der Risikoschwangerschaften. Dazu kommen Patientinnen mit Übergewicht, mit Diabetes oder anderen Vorerkrankungen. Seltener als in den USA wird dagegen der Eingriff aus nichtmedizinischen Gründen gemacht.

Krankenkassen finanzieren Geburtshilfe

Dennoch wird sich kaum eine werdende Mutter zu einer scheinbar größeren Natürlichkeit früherer Zeiten zurücksehen, als viele Frauen daheim ihre Kinder zur Welt brachten. Denn nur wenige konnten sich damals eine Klinik leisten. Heute wird die professionelle Geburtshilfe in Kliniken und Geburtshäusern von den Krankenkassen finanziert. Die ambulante Klinikgeburt kostet dabei sogar den geringsten Betrag, nämlich 843 Euro. Für eine Hausgeburt mit Hebammenbetreuung werden bis zu 1.100 Euro gezahlt, für eine Geburtshausentbindung je nach Tageszeit bis zu 1.550 Euro. Die Klinik mit stationärem Aufenthalt von Mutter und Baby kostet rund 2.293 Euro.

Im Hamburger Geburtshaus werden die künftigen Mütter über alle Vorgänge bei der Geburt und der Zeit danach aufgeklärt. "Wir achten darauf, dass die Frauen versorgt sind, wenn sie nach der Entbindung in die eigene Wohnung gehen", sagt Hebamme Braun. Bei gesunden Frauen kommt es selten vor, dass Komplikationen auftreten. Im Notfall besteht ein direkter Kontakt zum nächsten Krankenhaus. Aber das soziale Umfeld muss stehen. Familie und Freunde müssen mithelfen, um die Mütter zu versorgen. Das ist in Zeiten von Kleinfamilien und sozialer Isolation in Großstädten nicht selbstverständlich. Für viele Frauen scheint es beruhigender zu sein, versorgt und beschützt in einer Klinik zu bleiben.


Katrin Wienefeld ist freie Journalistin und lebt und arbeitet in Hamburg.