Alles ist ein bisschen anders heute. Im Foyer der Bundespressekonferenz steht die Hauptstadtpresse Schlange nach dem soeben erschienenen Buch von Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft sich ab." Wo sonst Krankenkassenvertreter Broschüren vorstellen, hat man am Montag aus drei Räumen einen gemacht - und bei weitem nicht genug Platz schaffen können für den Mann, den die türkischstämmige Publizistin und Islamkritikerin Necla Kelek als "thesenfreudig und meinungsstark" vorstellt, einer, so Kelek, "der als Tabubrecher wahrgenommen wird".
Auch Sarrazin ist heute ein bisschen anders. Als er in den überfüllten Raum kommt, hat er ein unbewegtes Gesicht aufgesetzt, das er beibehält: eine Maske der Sachlichkeit. Er macht fast keine Witze - außer auf eigene Kosten - gestattet sich kaum ein Lächeln, erklärt viel, polemisiert gar nicht.
Äußerungen über jüdisches Gen
Auch seine Äußerung vom Wochenende über ein bestimmtes, allen Juden gemeinsames Gen, die parteiübergreifend für Empörung gesorgt hatte, kann er erklären. Neue genetische Untersuchungen der DNA offenbarten die gemeinsamen genetischen Wurzeln aller heute lebenden Juden: "Das ist ein Faktum", sagt Sarrazin, das unter Wissenschaftlern intensiv diskutiert werde. "Völlig absurd" sei es indes, eine Zuschreibung - ob positiv oder negativ - daraus abzuleiten: "Insofern bin ich mit dem Begriff jüdischer Gene völlig unbefangen umgegangen, nämlich ganz normal. Das mag der Fehler gewesen sein. Das war aber auch der einzige."
Sarrazins Botschaft: Alles ganz normal, die Probleme haben die anderen. Sie häufen sich aber auffällig an diesem Vormittag, an dem im Berliner Regierungsviertel Sarrazins Buch offiziell vorgestellt wird. Gesprochen wird ja schon seit Wochen darüber. Sarrazin sieht die deutsche Demokratie in Gefahr durch Geburtenrückgang und fehlgeschlagene Einwanderung. Der Politik wirft er vor, die Schwierigkeiten speziell mit der muslimischen Bevölkerung zu tabuisieren.
SPD leitet Parteiordnungsverfahren ein
Eine Etage höher, im Pressesaal, erläutert Regierungssprecher Steffen Seibert, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) das Ansehen der Bundesbank durch den Bundesbankvorstand Sarrazin beschädigt sehe. Die Bank müsse sich Gedanken machen, wie sie mit dem Fall umgehe. Der frühere Berliner Finanzsenator und SPD-Politiker habe sich nun auch noch in "komplett abstruse Erbmaterialtheorien verrannt". Während der Buchvorstellung wird weiter bekannt, dass die SPD-Spitze ein Parteiordnungsverfahren gegen Sarrazin einleiten will. Am Nachmittag äußert sich der Vorstand der Deutschen Bundesbank und geht zu seinem Mitglied. Seine diskriminierenden Äußerungen fügten dem Ansehen der Bank Schaden zu und seien geeignet, den Betriebsfrieden zu stören, heißt es in einer am Montag in Frankfurt am Main verbreiteten Erklärung. Der Vorstand werde "unverzüglich ein Gespräch mit Herrn Dr. Sarrazin führen, ihn anhören und zeitnah über die weiteren Schritte entscheiden".
Sarrazin habe sich mehrfach provokant geäußert, insbesondere zu Themen der Migration. Obwohl diese Äußerungen als persönliche Meinung deklariert sind und Sarrazin ausdrücklich nicht für die Bundesbank spreche, würden sie zunehmend der Bundesbank zugerechnet. Der 65-Jährige missachte "fortlaufend und in zunehmend schwerwiegendem Maße" seine Verpflichtung, bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren, die sich aus den die Pflichten seines Amtes ergeben.
Die Antworten des Vielgescholtenen vor den Berliner Journalisten: Die Kanzlerin habe sicher noch nicht die Zeit gehabt, sein Buch zu lesen. In der SPD wolle er bleiben: "Ich bin in einer Volkspartei und werde in dieser Volkspartei bleiben, weil diese Fragen in die großen Volksparteien hineingehören". Und zu Webers Ankündigung sagt er, er habe auch in seiner Funktion als Bundesbank-Vorstand das Recht, sich frei zu äußern und habe dabei seine Pflichten nicht verletzt. Er sei jetzt, wie auch früher, stets loyal, nie aber abhängig gewesen, sagt Sarrazin, der 1973 in die SPD eingetreten ist und 1975 im Bundesfinanzministerium seine berufliche Laufbahn begann. Wenn er keinen Herzinfarkt bekomme, werde er auch in einem Jahr noch im Vorstand der Bundesbank sein.
Michel Friedman im Publikum
Während er am Stehpult die Kapitel seines Buches vorstellt wie ein Vereinsvorsitzender den Rechenschaftsbericht, sitzt Michel Friedman in der dritten Reihe. Er ist schon am Morgen dagewesen, bei einer kleinen Demonstration eines lokalen Bündnisses gegen Rechtsextremismus vor dem Pressehaus und hatte Sarrazin seine "diskriminierende, respektlose und hoffnungslose" Argumentation vorgeworfen, die nun auch noch "biologistisch" daherkomme. Dabei war der Talkmaster und frühere stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden ebenso wenig verlegen um eine Pointe, wie es Sarrazin gewöhnlich ist: "Wir brauchen Brückenbauer und keine Hassprediger", sagte Friedman.
Wüsste man nicht um die wiederkehrenden Provokationen des kühlen Kalkulators und Finanzexperten Sarrazin - nach dieser Buchvorstellung käme man nicht auf die Idee, dass ihn tatsächlich etwas anderes treiben könnte, als "die Liebe zu diesem Staat", die sich, wie er sagt, ganz automatisch einstelle, wenn man einem Land so lange diene wie er. So ein Buch sei schließlich Arbeit, "aber wie ich jetzt sehe, auch ein Risiko".
Seinen Kritikern gibt er stets den gleichen, fast beschwörenden Rat: "Lesen Sie mein Buch." Als wenn das allein helfen würde gegen die Probleme, die nun nicht mehr nur die anderen haben, sondern auch der Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin.