Kellerwald als Raum für Menschen und Wildnis

Kellerwald als Raum für Menschen und Wildnis
Der Nationalpark Kellerwald-Edersee soll Weltnaturerbe werden. Er ist einer von 14 Nationalparks in Deutschland. Die ausgedehnte Waldlandschaft erstreckt sich über 5724 Hektar am Edersee in Nordhessen. Sie beherbergt einen Buchenwald, der in Westeuropa, ja in der Welt einmalig ist. Demnächst wird eine Gutachterkommission der Unesco prüfen, ob der Park in die Liste des Weltnaturerbes aufgenommen wird.
23.08.2010
Von Lieselotte Wendl

Biologen geraten ins Schwärmen, wenn vom Kellerwald die Rede ist. Längst verschwunden geglaubte Insekten gibt es hier zum Beispiel. So kommt hier der veilchenblaue Wurzelhalsschnellkäfer vor. Dieser Spezialist kann nur im toten Holz leben, das sich am Wurzelhals eines abgestorbenen Baumes bildet. In der mehlähnlichen Substanz fühlt er sich wohl und tut seine Arbeit. Mit ihr trägt er dazu bei, dass dieser Baum in dem ewigen Kreislauf der Natur von Werden und Vergehen irgendwann ganz und gar zersetzt ist. Aber vorher sind schon andere Experten aktiv geworden, nämlich Baumpilze. Und mit diesen wiederum Pilzmücken, eine davon wurde erst jüngst entdeckt, nämlich Coelosia fusca, die rotbraune Pilzmücke.

Natur Natur sein lassen - so heißt das Prinzip im Nationalpark Kellerwald-Edersee. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass Wanderwege nicht auf Forststraßen mit festem Unterbau geführt sind, sondern auf kleinen Pfaden, wo auch schon mal ein umgestürzter Baum quer liegt. Wenn es geht, klettert der Wanderer drüber. Bei größeren Blockaden verlegt die Nationalparkverwaltung den Wanderweg durchaus auch drum herum. Denn Totholz wird im Kellerwald nicht "aufgeräumt".

Natur ohne Eingriffe des Menschen

Darum geht es ja gerade im Nationalpark: Sehen, was passiert. Wie entwickelt sich die Natur ohne den Eingriff des Menschen? Was etwa wird aus den Nadelholzbeständen, die noch immer im Buchenwald verteilt vorhanden sind? Sie wurden unter anderem einst angepflanzt, als die Fürsten von Waldeck das weitläufige Waldgebiet als Jagdrevier nutzten. Sie pflanzten Nadelbäume für das Wild als Nahrung an, damit es gut gedieh und so auch genug Jagdtrophäen zu schießen waren. Weil Forstwirtschaft zur Holznutzung und Jagd sich nicht gut vertrugen, blieb dieses Gebiet lange Zeit von forstlichen Eingriffen frei. Der Wald konnte weitgehend ungestört wachsen – eine Entwicklung, die heute dem Nationalparkgedanken entgegenkommt.

Auch der Orkan Kyrill, der im Januar 2007 über Deutschland hinwegraste, hat zu der natürlichen Entwicklung beigetragen. 15.000 Festmeter Holz wurden damals umgeworfen – und nicht herausgeholt, wie sonst in einem Forst üblich. Waren beim Start des Nationalparks 2004 noch 20 Prozent der Fläche mit Nadelwald bedeckt, so sind es heute nur noch zehn Prozent. "Natürliche Dynamik" nennt Achim Frede diese Entwicklung, die durch den Befall mit dem Borkenkäfer in Gang gesetzt wurde. Der Biologe ist in der Nationalparkverwaltung für Naturschutz und Forschung zuständig. "Der Borkenkäfer nimmt uns hier die Arbeit ab und strukturiert den Wald neu", sagt Frede. Wenn die Fichten gefallen sind, öffnen sich lichte Plätze. Auf ihnen können die Buchenschösslinge, die im Frühjahr überall "aufschlagen", wie der Biologe sagt, groß und irgendwann zu Bäumen werden.

Die Buche ist nämlich ein geduldiger Baum. Die jungen Bäume können lange Zeit im Halbdunkel der alten Baumriesen stehen und darauf warten, dass sich eine Lücke auftut. Wenn dann ein alter Baum mit breiter Krone stürzt, fällt plötzlich Licht an diesen Ort, und die kleine Buche fängt an, sich diese Lücke zu erobern.

Die Buche – ein europäischer Baum

Ohne den Eingriff des Menschen würde die Buche, die einst die vorherrschende Tundra ablöste, heute zwei Drittel der Fläche Europas bedecken, sagt Jutta Seuring, die für die Umweltbildung und die Öffentlichkeitsarbeit im Nationalpark zuständig ist. Kaum eine Baumart sei so dominant und fähig, auf unterschiedlichen Standorten zu wachsen wie die Buche. Trocken oder feucht, nährstoffreich oder eher mager, stark sauer oder kalkreich, die Buche siedelt sich an unterschiedlichsten Plätzen an.

Ranger und andere Fachleute bieten geführte Wanderungen unter bestimmten Themenstellungen an. Da kann man mit einem Fledermausforscher unterwegs sein oder im Herbst die Hirschbrunft erleben. Es gibt Führungen zu den Quellen des Waldes oder den Baumriesen im Hutewald. Auch zu Planwagenfahrten und Pilzwochenenden können sich Besucher anmelden. Für die vielen Touristen aus dem benachbarten Holland werden sogar Führungen in Niederländisch angeboten.

Große Artenvielfalt

Bei einer Führung entdeckt man auch, wie vielfältig die Natur im Nationalpark ist. Mehr als 10.000 Tier-, Pflanzen- und Pilzarten haben die Fachleute schon verzeichnet. Rot-, Reh- und Schwarzwild sind jedem bekannt. Auf die großen Räuber Wolf und Luchs wartet man bisher noch vergebens, dafür hat sich die heimlich lebende Wildkatze wieder angesiedelt. Und dann natürlich alles, was krabbelt, kriecht und fliegt: Kröten und Frösche, Hirschkäfer und Schrecken, Schwarzstorch, Greif- und Singvögel in großer Vielfalt.

Die Führungen, die Menschen an die Besonderheiten des Waldes heranführen sollen, gehören zum Nationalparkgedanken. Die Welterbekommission wird auch begutachten, wie die Gebiete Besuchern zugänglich gemacht werden, ohne den angemessenen und umfassenden Schutz der Kernflächen zu vernachlässigen.

Sollte der deutsche Antrag die Anerkennung des Welterbekomitees finden, so bekämen die bereits als Welterbe anerkannten Buchenurwälder der Karpaten ihre ideale Ergänzung, sagt Jutta Seuring. Und dann wird sie sogar ein bisschen feierlich: "Es wäre ein große Ehre für uns und Bestätigung unserer Arbeit, wenn wir hier ein Erbe für die ganze Menschheit erhalten dürften".