Der Internet-Goliath aus Mountain View settet mal wieder die Agenda: ganz vorn in den Schlagzeilen mit der Einführung seines "Guckdienstes" (TAZ) Streetview auch in Deutschland.
Und weiter hinter in den Ressorts, die sich um Ausblicke in die etwas weitere Zukunft bemühen (SZ-Feuilleton, FAZ-Wirtschaft), wegen seiner womöglich veränderten Haltung zur Netzneutralität. Selbst Jeff Jarvis, der populärste Google-Aficionado der Welt, fragt sich, "ob der Konzern 'böse' geworden sei", entnehmen wir der Süddeutschen. Er fragt sich das aber bloß erstmal, zu einer abschließenden Antwort ist er noch nicht gekommen.
Zunächst zu Googles Streetview: In Wuppertal, einer der zunächst 20 betroffenen deutschen Städte, habe "sich vor dem Rathaus eine Schlange gebildet", weil dort Listen ausliegen, in denen Bürger bei der Google Germany GmbH, ABC-Straße 19, 20354 Hamburg, Widerspruch gegen die Abbildung ihrer Wohnungen oder Häuser einlegen können. Das berichtet die TAZ.
Musterwidersprüche zum Herunterladen, die auch per E-Mail (Adresse siehe oben) verschickt werden können, hält ferner das BMELV (Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz) bereit.
Während die FAZ sich heute ganz bemerkenswert zurückhält und bloß auf faz.net Widerspruch-Interessierten Service bietet, berichtet die Süddeutsche gleich auf ihren ersten Seiten allerhand über die aktuellste hiesige Google-Initiative und die Reaktionen deutscher Politiker, die beide bereits Schatten auf interessante kommende Probleme vorauswerfen. So wird auf S.1 Konstantin von Notz, ein netzpolitischer Grünen-Sprecher zitiert:
"Bei der Selbstverpflichtung von Google gibt es viele ungeklärte Fragen. Was ist, wenn die Pizzeria im Erdgeschoss bei Street View erscheinen will, der Bewohner im zweiten Stock aber nicht?"
Google wiederum werde, berichtet dasselbe Blatt auf S. 2, "aus Kapazitätsgründen nicht bei jedem Antrag die Identität des Antragstellers überprüfen, sondern versuchen, mit Hilfe technischer Kontrolle auszuschließen, dass beispielsweise ein Hausbesitzer nicht nur sein Haus, sondern gleich alle in seiner Straße aus Street View herausnehmen lässt. Eine, wenn auch nicht hundertprozentige Kontrollmöglichkeit ist beispielsweise die Erfassung der Internetadresse, mit der sich ein Antragsteller einwählt."
Tatsächlich ist Googles Darstellung des Themas, der ein süßes Spielzeug-Video vorangestellt ist (daher unser Foto oben), aufschlussreich. Im Sound, der klingt, als habe ein hochwertiger Übersetzungs-Algorithmus kalifornisches Justiziariats-Englisch direkt ins Amtsdeutsche übertragen ("Wir beantworten jeden bei uns schriftlich eingegangenen Widerspruch zunächst mit einer Eingangsbestätigung. Sobald die Funktion zur Unkenntlichmachung von Häusern bzw. Grundstücken zur Verfügung steht, erhalten diese Personen eine erneute Nachricht von Google mit einer genauen Erklärung, wie die Funktion benutzt wird") werden allerlei Fragen im FAQ-Stil beantwortet. Zum Beispiel, relativ weit unten: "Ist Street View rechtmäßig?"
"Google hat die Rechtmäßigkeit von Street View bereits vor dem Start des Projekts in Deutschland im Jahre 2008 sorgfältig untersucht." Und falls jemand Google nicht völlig vertrauen sollte: "Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von juristischen Stellungnahmen, welche die Rechtmäßigkeit von Street View bestätigen, so z.B. vom Institut für Rechtsinformatik der Leibniz Universität Hannover" (die übrigens schon 2009 zur nicht ganz unseltsamen win-win-Ausstellung "Von der Keilschrift bis Youtube" beitrug, in der Googles Youtube als legitimer Erbe der assyrischen Keilschrift und die immer etwas unterschätzte Lena- und Christian-Wulff-Stadt Hannover als jahrhundertlang wichtige Wissenschaftsstadt erschienen. Und die weiter vollumfänglich auf Youtube zu besichtigen ist. Aber das nur völlig by the way).
"Gleichwohl ist die Firma besser als ihr Datenkraken-Ruf, man denke an ihr Engagement für offene Standards im Netz, für freie Software und ganz allgemein an ihren Weitblick und ihre Intelligenz im Bereich der Netz-Innovationen", ruft in der TAZ Julia Seeliger aus. Und den o.g. Schlange stehenden Wuppertalern zu, dass die Menschen zumindest per Streetview sicher auch ihre Stadt gern besuchen würden, sobald die dort zu sehen sei.
Die wieder protestierende Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner dagegen müsse "sich fragen lassen, warum sie Vorratsdatenspeicherung, BKA-Gesetz und Netzsperren, allesamt harte Maßnahmen staatlicher Überwachung, unterstützt und gleichzeitig so laut gegen Google Stimmung machte".
Artikel des Tages
Äh, vielleicht weil bei aller berechtigten Detailkritik Rechtsstaaten mit Verfassungsgerichten und dergleichen schon noch etwas anderes sind als privatwirtschaftlich-profitorientierte Inc.s aus Mountain View?
Damit zur komplexen Frage der Netzneutralität, die als Forderung bislang einen wesentlichen Baustein des Google'schen "Don't be evil"-Mission Statements bildete. Und jetzt vielleicht dort herausbricht.
Stichworte zu den Vereinbarungen, die Google in den USA mit dem Netzanbieter Verizon traf, lauten hierzulande heute z.B.: "durchsichtiges Manöver" (FTD), "Zwei-Klassen-Internet" (SPON), "Entsetzen" (meedia.de), "Alarmsignal", "Hintertür" (Tagesspiegel jeweils).
"Ob der 9. August 2010 in den Annalen des Netzes wirklich einmal als Zäsur vermerkt sein wird?", fragt sich Niklas Hofmann im oben verlinkten SZ-Artikel. Und FAZ-Netzökonom Holger Schmidt, bekanntlich kein grundsätzlicher Kritiker der globalen Internetkonzerne, kommentiert in der FAZ-Wirtschaft (S.9, neulich schon online ähnlich):
"Ist es im Sinne des Wettbewerbs, wenn es schnelle Suchergebnisse künftig nur von Google gibt, möglicherweise sogar nur bei einem Netzbetreiber?",
Der Artikel von Christian Bartels ist Teil des Blogs Altpapier, das ein Autorenteam wochentäglich auf evangelisch.de verfasst. Alle Blogeinträge finden Sie hier.