Schreckliche Gewaltszenen haben sich im Schlafsaal des Ferienhauses "Silbermöwe" auf Ameland abgespielt. 13- und 14-Jährige wurden von ihren Ferienlagerkameraden nachts grausam gequält. Drei Jungen haben die Vorwürfe inzwischen zugegeben, sagte Staatsanwalt Alexander Retemeyer am Donnerstag in Osnabrück. Die Zahl der Täter ist aber wohl viel größer. Immer noch erscheint das Verhalten der Betreuer rätselhaft. Haben sie die Hilferufe ihrer Schutzbefohlenen schlicht nicht verstanden?
Die Betreuer des Ferienlagers, das vom Stadtsportbund Osnabrück Ende Juni, Anfang Juli angeboten wurde, sind noch nicht richtig vernommen worden. Zunächst wollten sich die Ermittler einen Überblick verschaffen, um erst dann die Betreuer zu verhören, sagte Retemeyer. Ein Polizeisprecher sagte, die Ermittler wollten nach Möglichkeit bis zum Ende der Schulferien in Niedersachsen Anfang August mit den Vernehmungen fertig sein.
Seit Jahren im Betreuerteam
Bei der Aufarbeitung des Falls scheint das Wort "Fisting" eine Rolle zu spielen, deutete Retemeyer an. Anscheinend ist dieser Begriff von den Jugendlichen gebraucht worden. Er bezeichnet Sexualpraktiken, bei denen Hand oder Finger in Vagina oder Anus eingeführt wird.
Möglicherweise sei dieses Wort gefallen, aber die Betreuer hätten es nicht richtig einordnen können, sagte der ehrenamtliche Leiter des Ferienlagers, Dieter Neuhaus. Er selbst habe den Begriff erst im Nachhinein kennengelernt und ihn auch während des Ferienlagers nicht gehört. Das Ehepaar, das das Haus geleitet habe, in dem sich die Missbrauchsfälle abspielten, sei eher älter und gehöre schon seit vielen Jahren zum Betreuerteam.
Pädagogisch geschult
Neuhaus betonte, zwar hätten nicht alle der 39 Betreuer die Jugendleitercard besessen, alle seien aber fachlich qualifiziert gewesen. Insgesamt hätten 170 Kinder und Jugendliche an der Freizeit teilgenommen. "Es sind Leute, die pädagogisch geschult sind, die Erzieher sind oder in der Ausbildung zum Erzieher stehen." Zu dem Team hätten Berufstätige und Studenten gehört, die alle Erfahrung in der Kinderbetreuung hätten.
In einer Unterkunft des Ferienlagers waren die jüngsten und schwächsten unter den 39 Jugendlichen der Gruppe nachts aus ihren Betten gerissen und in die Mitte des Saales gezerrt worden. Dann muss eine johlende Meute versucht haben, ihnen Colaflaschen oder Besenstiele in den Po zu stecken.
"Wir gehen davon aus, dass maximal 13 Personen als Beschuldigte in Betracht kommen", betonte Retemeyer. Insgesamt seien bislang 25 Jugendliche aus dem Schlafsaal verhört worden. Sechs von ihnen gelten mittlerweile als Opfer. Der Rest müsse noch vernommen werden, eventuell auch Jugendliche, die in anderen Unterkünften gewohnt haben. "Das könnte notwendig werden, um zu klären, wer was gewusst hat", sagte Retemeyer.
Opfer wurden zu Tätern
Die Opfer waren 13 und 14 Jahre alt, die bereits geständigen Täter 14 und 15 Jahre. Ein Junge hat inzwischen Geburtstag gehabt und ist jetzt 16. Allerdings seien wohl auch Opfer während des Ferienlagers zu Tätern geworden, sagte der Staatsanwalt.
Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, warf den Betreuern vor, die aggressive Stimmung unter den Jugendlichen wohl nicht mitbekommen zu haben. Er könne sich dies nur damit erklären, dass die Betreuer selbst Urlaub gemacht und ihre Aufgabe nicht ordentlich erledigt hätten. Alle Betreuer bräuchten nicht nur eine pädagogische Ausbildung. Auch die Ehrenamtlichen müssten ein polizeiliches erweitertes Führungszeugnis vorlegen.
Führungszeugnis gefordert - Jugendverbände skeptisch
Ein solches Führungszeugnis regte auch der SPD-Vizefraktionschef im niedersächsischen Landtag Uwe Schwartz an. Er forderte eine bessere Ausbildung für Jugendleiter und kritisierte in der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Donnerstag), die CDU/FDP-Landesregierung habe sich aus der Fort- und Weiterbildung fast komplett zurückgezogen. Mehrere Organisationen wiesen darauf hin, dass sie Schulungsmaterialien über Sexualität und Prävention entwickelt hätten.
Der Deutsche Bundesjugendring spricht sich gegen die Einführung von Führungszeugnissen für Ehrenamtliche, eine Debatte, die schon seit Monaten läuft. In der Prävention von sexueller Gewalt sei ein verpflichtendes Führungszeugnis für Ehrenamtliche möglicherweise sogar kontraproduktiv, weil sie eine falsche Sicherheit vorspiegelten.
Die Taten in Ameland jedenfalls hätten eher durch bessere Präventionsarbeit verhindert werden können, wie sie der DBJR ebenfalls fordert, als durch Führungszeugnisse der Leitenden, die in Ameland nicht die Täter waren.