Ameland, wie es war und sein sollte

Ameland, wie es war und sein sollte
In einem Ferienlager auf Ameland sind mehrere Kinder von Jugendlichen sexuell missbraucht worden. Evangelisch.de-Mitarbeiter Henrik Schmitz war als Kind selbst bei einer Ferienfreizeit auf Ameland. Er erinnert sich an unbeschwerte Tage. Umso tiefer sitzt der Schock über das, was dort nun passiert ist.
22.07.2010
Von Henrik Schmitz

Ich bin mir sicher, dass es dasselbe Haus ist. Meine Schwester glaubt das auch. Der Ort stimmt: Buren auf Ameland. Das Bild in der Zeitung deckt sich mit dem verschwommenen Bild in meinem Kopf. Die Wiese vor dem Haus mit der abgezäunten Weide, bei der ich nicht mehr weiß, ob und welche Tiere dort gegrast haben. Die Leiter, die aus dem oberen Stockwerk nach unten führt und die Hintertür, von der man aus der Küche ins Freie kam. Ich glaube mich erinnern zu können, hier selbst im Ferienlager gewesen zu sein. Etwa 22 Jahre ist das nun schon her.

Die Erinnerungen, die ich habe, sind dunkle aber gute Erinnerungen. Selbst wenn man bedenkt, dass der Mensch im Rückblick manches verklärt und das Schöne stärker erinnert als das Schlechte, so verbinde ich doch mit Ameland und dem Bauernhaus auf Buren, wo nun so schlimme Dinge passiert sind, Gutes.
Wer im Münsterland groß geworden ist, der kennt sie, die deutschen und niederländischen Nordseeinseln. Ich war mit der Oma auf Sylt, mit der evangelischen Theatergruppe auf Terschelling, mit der Schulklasse auf Langeoog und eben mit der Kirchengemeinde auf Ameland. Unsere Betreuer waren jünger als ich heute. Sie waren etwa Anfang 20, selbst Jugendliche noch, die sich in der Kirchengemeinde engagiert haben. Ob sie besondere Betreuungsscheine gemacht haben? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass sie uns gut betreut haben und dass wir viel Freude hatten.

"First Time"

Es gab sie auch damals, die Großen und die Kleinen. Ich gehörte zu den jüngeren Teilnehmern. Wir jüngeren und die Mädchen fanden den Coca-Cola-Werbesong "First Time" von Robin Beck prima, die älteren bevorzugten "The Way to your Heart" von Soulsister, was damals – man kann es heute kaum glauben – als ausnehmend rockig und beinahe nicht mehr mehrheitstauglich galt. Englisch konnten wie sowieso noch nicht. Bei der Ameland-Hitparade, bei der wir die aktuellen Hits im Playback sangen, setzten sich natürlich die Älteren durch.

An Gewalt erinnere ich mich nicht. An Streit schon. An einem Abend war mein Stofftier, ein Eichhörnchen, das ich noch heute besitze, verschwunden. Das einzige was ich auf meinem Bett fand, war die Watte, mit dem es gestopft war. Nach ein paar Tränen war das Eichhörnchen aber schnell wieder da. Sexuelle Übergriffe, da bin ich mir sicher, hat es nicht gegeben. Wir wanderten über die Insel, wir gingen an den Strand. Wir machen eine Inselrallye bei der man im Supermarkt ein Ei und einen Apfel erschnorren musste, was die Frau an der Kasse sichtlich nervte, weil insgesamt fünf Jugendgruppen von ihr dasselbe wollten. Wir veranstalteten ein Spielcasino, bei dem wir versuchten die uns zugeteilten Fruchtgummi-Smilyes bei "21" oder Roulette zu vermehren.

Stockbrot und Frauentag

Wir backten Stockbrot und die Mädchen veranstalteten einen Frauentag, bei dem sie sich früh morgens aus dem Haus schlichen und uns auf dem Bauernhof mit Plakaten zurückließen, auf denen sinngemäß stand, das Jungs ja eh doof seien. Wir waren damals tödlich beleidigt und waren ausnehmend schadenfroh darüber, dass es just an diesem Tag stark regnete und der Frauenausflug zu einem Abenteuerspielplatz regelrecht ins Wasser viel.

Wir machten auch Dinge, bei denen ich mir nicht sicher bin, ob sie heute noch als angemessen angesehen würden. Eine Aufgabe bei der Ameland-Ralley bestand darin, aus der eigenen Kleidung eine möglichst lange Kette zu knoten. Ich habe noch ein Foto, auf dem fünf bis sechs Kinder zu sehen sind, die alle nur noch eine Unterhose anhaben und stolz ihre Kleiderkette in die Luft halten.

Händchenhalten

Ferienlager waren natürlich stets auch Gelegenheiten, sich dem anderen Geschlecht anzunähern. Zumindest für die Älteren jedenfalls. Man schlich sich nachts in den Schlafsaal der Mädchen, es bildeten sich Pärchen, die maximal zwei Tage zusammen waren und deren Zuneigung sich maximal durch Händchenhalten ausdrückte. Das war alles sehr harmlos und doch sehr spannend. Wer wen mochte, war hoch interessant und schon damals konnten vor allem Mädchen sehr schnell ihren Ruf ruinieren, wenn sie mit mehr als zwei Jungen Händchen gehalten hatten. Wer im Münsterland aufwächst, ist in Liebesdingen oft eher konservativ geprägt.

Es war auch die Zeit, in der sich Schamgefühle entwickelten. Sex war noch nicht einmal vom Wort her ein Thema. Aber es war unangenehm, sich vor den anderen auszuziehen, weshalb man beim Duschen stets die Unterhose oder eine Badehose anbehalten wollte. Die Betreuer, die eher auf Hygiene denn auf die Schamgefühle von 11-Jährigen bedacht waren, unterbanden dies, indem wir unsere Badehosen gut sichtbar über die Duschkabinentür hängen mussten. Das fanden wir doof, mit sexueller Belästigung hatte dies aber nichts zutun.

Fassungslos

Ich bin dankbar, dass meine Eltern mich damals auf diese Ferienzeit geschickt haben. Ich bin den Betreuern dankbar für die Mühe, die sie sich gemacht haben. Und ich bin den anderen Kindern von damals dankbar für tolle Freundschaften und tolle Tage. Ich wünsche jedem Kind das Gemeinschaftserlebnis, das ich auf Ameland erlebt habe.

Ich bin ratlos über das, was auf dem ehemaligen Bauernhof passiert es, in dem ich so unbeschwerte Tage verbracht habe. Ich bin ratlos, dass aus normalen Streitereien unter Kindern und Jugendlichen sadistische Exzesse werden. Wie kann man solche Exzesse verhindern? Ich weiß es nicht. Der Gedanke, dass aus Tagen, die unbeschwert und leicht sein sollten, die schrecklichsten Tage im Leben mehrerer Kinder geworden sind, ist unerträglich. Wenn ich nun an Ameland denke, denke ich nicht an eine Rallye über die Insel und Smileys im Lagercasino. Meine Gedanken sind bei den Kindern, die Opfer schlimmer Gewalt wurden und bei den Jugendlichen, die diese Gewalt ausgeübt haben. Ameland, da schwingt nun stets auch Trauer und Wut mit. Ich hoffe, es gibt sie noch, das Ameland und die Ferienfreizeiten, die ich kennenlernen durfte und die so waren, wie sie sollten.


Henrik Schmitz ist Redakteur bei evangelisch.de.