Drogenkrieg in Mexiko: Niemand soll sich mehr sicher fühlen

Drogenkrieg in Mexiko: Niemand soll sich mehr sicher fühlen
Über 300 Tote in sieben Tagen – Mexiko erlebte die blutigste Woche seit Jahren. Das Land ist gefangen in einem Teufelskreis der Gewalt, aus dem es keinen Ausweg findet.
22.06.2010
Von Florian Paulus Meyer

Die Woche beginnt mit fünf Seiten Drogenkrieg. Die Zeitung La Jornada aus Mexiko Stadt hat dem blutigen Konflikt fast das gesamte erste Fünftel der Montagsausgabe gewidmet. Neben spitzen Kommentaren, schaurigen Korrespondentenberichten und Schwarzweißfotos von zerschossenen Autos sind es aber vor allem die scheinbar alltäglichen Geschichten, die begreifen lassen, in welch desolatem Zustand sich das Land befindet.

In einigen Kleinstädten im besonders betroffenen Norden Mexikos fand über einen Monat kein Unterricht statt. Die Lehrer trauten sich nicht zur Arbeit zu fahren, die Eltern wollten ihre Kinder nicht aus dem Haus lassen. Zu groß war die Angst, in eine Schießerei zu geraten, zu groß die Sorge zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein.

Unschuldige geraten zwischen die Fronten

Eine Stadt steht als Sinnbild für die Eskalation der Gewalt: Ciudad Juárez. Die Grenzstadt am Rio Grande ist eine der gefährlichsten Städte der Welt. Im vergangenen Jahr starben dort etwa 2.500 Menschen im Drogenkrieg. Die Mehrheit der Morde entfällt zwar auf Mitglieder der jeweiligen Banden, sagen mexikanische Sicherheitsexperten. Eine Gefahr bestehe in erster Linie für diejenigen, die sich mit den Kartellen einlassen. Mittlerweile geraten aber immer mehr Unbeteiligte zwischen die Fronten.

Misstrauische Blicke, gehetzt wirkende Passanten und leere Kneipen bestimmen das Stadtbild. Nachts ist die Stadt wie ausgestorben, das soziale Leben leidet. Der Terror der Kartelle zeigt Wirkung: Die Hinrichtungen auf offener Straße, die Folter und die brutalen Misshandlungen vor den Augen der Öffentlichkeit seien eine gezielte Strategie der bewaffneten Banden, um Angst zu verbreiten, sagt die Journalistin María Idalia Gómez. Niemand soll sich sicher fühlen.

María Idalia Gómez, 39, wohnt in Mexiko Stadt, regelmäßig recherchiert sie aber an der US-mexikanischen Grenze und in den Drogenanbaugebieten im Nordwesten des Landes. Seit die Gewalt zugenommen hat, ist sie vorsichtiger geworden: Sie reist nicht mehr alleine, informiert sich genau, wohin sie geht und versucht, vor Ort immer Vertrauensleute zu treffen. Auf ihrem Mobiltelefon sind für Notfälle auch die Nummern von Polizisten und Bekannten in der Regierung eingespeichert. Über die Jahre habe sich die Lage immer weiter verschlechtert, sagt sie. Und es wird immer schwieriger einen Ausweg aus der Gewalt zu finden.

Über 300 Tote in sieben Tagen

Vergangene Woche gab es einen traurigen Rekord. Über 300 Tote in sieben Tagen: Es war die blutigste Woche seit Jahren. Allein im Gefängnis der Stadt Mazatlán starben am 15. Juni 29 Häftlinge bei Kämpfen rivalisierender Drogengangs. Die Armee musste anrücken, um die Lage unter Kontrolle zu bringen. Seit Präsident Felipe Calderón 2006 einen "Krieg gegen die Drogen" ausrief, wächst die Zahl der Ermordeten.

Über 23.000 Menschen wurden seitdem getötet. Hinzu kommen weitere Morde, die jedoch nie an die Öffentlichkeit gelangen, weil die mexikanische Presse nicht mehr frei recherchieren und berichten kann. In vielen Fällen halten sich Journalisten an die Veröffentlichungen von Polizei und Justiz. Doch auch die ist in die illegalen Geschäfte eingebunden. "Heute ist es in Ciudad Juárez, in Sinaloa, Tamaulipas und Michoacán so, dass die Journalisten ganz genau wissen, dass sie nicht zu den Behörden kommen brauchen, wenn sie sich nicht einem großen Risiko aussetzen wollen", sagt Balbina Flores von der Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen. Der Drogenhandel in Mexiko floriert seit den 90er Jahren, als mexikanische Mafiabanden die kolumbianischen Kartelle verdrängten. Die mexikanischen Kartelle entwickelten sich zu den mächtigsten Verbrecherorganisationen der westlichen Hemisphäre, schreibt der Eichstätter Politikwissenschafter Karl-Dieter Hoffmann.

Berufswunsch der Kinder: Drogenboss

Mit wachsendem Einfluss suchten sie nach neuen Erlösquellen: Heute kontrollieren sie nicht mehr nur den Drogenhandel, sondern haben auch Einnahmen aus Schutzgelderpressung, Entführungen, Bankraub und Menschenhandel. Das Wirtschaftsvolumen der Kartelle wird auf über zehn Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsprodukts geschätzt – die gleiche Größenordnung erzielt die Ölindustrie.

Neben der wirtschaftlichen Kraft prägt der Narcotráfico, wie der Drogenhandel in Mexiko genannt wird, auch die Gesellschaft. Selbst die Elfjährigen antworten heute, wenn man sie nach ihrem Berufswunsch fragt, mit Drogenboss, sagt ein Pfarrer aus der mexikanischen Provinz. "Wenn ich dann frage warum, kommt immer dieselbe Antwort: Die haben die größten Autos, verdienen am meisten Geld und sagen sogar der Polizei, wo es langgeht."


Florian Pauls Meyer ist freier Journalist und war acht Wochen in Mexiko unterwegs.