Kolumbien: Tausende Männer für die Statistik getötet

Kolumbien: Tausende Männer für die Statistik getötet
In Kolumbien sollen Tausende junge Männer in Krisengebiete gelockt und getötet worden sein. So konnte die Armee Erfolge im Kampf gegen die Rebellen vermelden.

"Falsos positivos" - "falsche Erfolge" werden sie genannt, die jungen Männer, die in Kolumbien für Prämien und Statistiken getötet wurden. Damit die Armee Siege im Kampf gegen die Rebellen melden konnte, wurden Tausende Zivilisten in Krisengebiete gelockt, ermordet und als gefallene "Terroristen" deklariert. Denn jeder tote Guerillero ist für die Regierung ein Erfolg, ein "positivo".

Diesem System zum Opfer fiel auch Víctor Gómez. Seine Mutter Carmenza macht Kolumbiens Präsident Álvaro Uribe und dessen wahrscheinlichen Nachfolger Juan Manuel Santos für Víctors Tod verantwortlich. "Ich will, dass die Mörder bestraft werden", sagt Carmenza Gómez trotzig. Viel hat sie für diese Überzeugung schon riskiert.

Junge Männer verschwanden

Santos wird am Sonntag voraussichtlich zum neuen Präsidenten Kolumbiens gewählt. Er war ab 2006 Verteidigungsminister - der Hochzeit der "falsos positivos". Carmenza Gómez sitzt mit fünf anderen Frauen im Büro einer Menschenrechtsgruppe, die vom katholischen Hilfswerk Misereor unterstützt wird. Sie alle haben ihre Söhne verloren. Mit vergrößerten Porträtfotos der Toten, die teils noch fast aussehen wie Kinder, fordern sie auf Demonstrationen Aufklärung und Gerechtigkeit.

Aus Soacha, einer armen Vorstadt im Süden der Hauptstadt Bogotá, wurden mindestens 23 junge Männer angeworben. Im August 2008 verschwand Víctor. Man habe ihm eine gut bezahlte Arbeit in Nordkolumbien versprochen, erzählt seine Mutter. Zwei Tage später war er "im Gefecht gefallen", 600 Kilometer von seiner Heimat entfernt.

In der Gerichtsmedizin zeigte man Carmenza Gómez ein Foto ihres Sohnes. Er hatte elf Einschusslöcher im Körper, eines davon zwischen den Augenbrauen. Sie lieh sich Geld, mietete einen Leichenwagen und holte Víctor im Kriegsgebiet ab. "Hier liegen noch mehrere Jungs aus Soacha in Massengräbern, die die Armee getötet hat", sagte man ihr. "Wollen Sie mit der Presse reden?" Sie wollte. Wochen später suspendierte Uribe drei Generäle und 24 weitere Soldaten vom Dienst.

Größter Skandal für die Politik

"Die Spitze des Eisbergs" nennt Philip Alston, UN-Sonderberichterstatter für außergerichtliche Hinrichtungen, die Fälle aus Soacha. Ein ausgeklügeltes Anreizsystem versprach den Uniformierten und ihren Helfern Prämien, Beförderungen oder Sonderurlaub. Die Armeeführung brüstete sich mit Erfolgsstatistiken im Antiguerillakampf.

Ab 2004, zwei Jahre nach dem Amtsantritt Uribes, hätten sich die Fälle von "falsos positivos" mit "verstörender Häufigkeit quer über Kolumbien" verbreitet, heißt es in Alstons Bericht. Genaue Zahlen gibt es nicht. Die Staatsanwaltschaft ermittelt in über 2.300 Fällen, die Dunkelziffer liegt viel höher. Für die Regierung, die sich für ihre Politik der harten Hand feiern lässt, haben sich die "falsos positivos" zum größten Skandal der vergangenen Jahre ausgewachsen.

Doch im Präsidentenpalast wiegelt der Menschenrechtsbeauftragte Carlos Franco ab. Er zählt 15 Maßnahmen auf, mit denen die Achtung der Menschenrechte durch die Streitkräfte durchgesetzt werden soll. "Mein Büro hat die Soacha-Affäre aufgedeckt", behauptet er. Den künftigen Präsidenten Santos treffe keine Schuld. "Er hat das abgestellt", so Franco.

Keine Verurteilungen, keine Entschädigungen

Tatsächlich gibt es seit Oktober 2008 kaum neue Fälle, doch zuvor hatten Menschenrechtler bereits jahrelang auf die Hinrichtungen hingeweisen. Christian Salazar-Volkmann, Leiter des UN-Menschenrechtsbüros, berichtet von "systematischen Versuchen, die Prozesse gegen die Täter und deren Hintermänner zu erschweren". Im Alston-Bericht wird die Straflosigkeit auf 98,5 Prozent beziffert.

Im Fall der "falsos positivos" aus Soacha waren schon 62 Soldaten in Untersuchungshaft, doch bis auf acht sind alle wegen abgelaufener Fristen wieder auf freiem Fuß. Bislang ist niemand verurteilt, keine Familie entschädigt worden.

Carmenza Gómez hat noch einen zweiten Sohn verloren: Er wurde erschossen, weil er den Mord an seinem Bruder auf eigene Faust aufklären wollte. Sie selbst wird ebenso bedroht wie eine ihrer Töchter. Aber schweigen will sie nicht: "Wenn mir etwas passiert, ist klar, woher das kommt."

epd