Twitter, dieser Kurznachrichtendienst, der vielen nach wie vor ein Rätsel ist, auf dem sich aber irgendwie die Welt im Kleinen abzuspielen scheint: Das war für 13 Jahre so etwas wie mein Zuhause in den sozialen Medien. Hier habe ich echte Freunde gefunden. Hier kamen viele Anregungen für diesen Blog her. Hier habe ich mich mit Gleichgesinnten ausgetauscht und mit anderen gestritten und dabei meine Rhetorik geschärft – und ganz nebenbei gelernt, mich extrem kurz und prägnant auszudrücken (die überzähligen Wörter schmeiße ich seit Jahren alle in extrem lange Schachtelsätze in diesem Blog, von denen ich manchmal erst nach Jahren feststelle, dass sie entgegen meiner festen Überzeugung doch den einen oder anderen oft lediglich auf einem Tippfehler beruhenden klitzekleinen Grammatikfehler beinhalten.)
Nun, meine Heimat ist es nicht mehr, ich versuche derzeit, mich auf Mastodon einzurichten, wie so viele, seit Elon Musk den Laden übernommen hat. Eine Entscheidung der alten Führung jedoch hatte Twitter kurzzeitig wieder sehr viel angenehmer gemacht: Die lebenslange Sperre von Donald Trump, damals noch US-Präsident, nach den Ereignissen am US-Kapitol am 6. Januar 2021, als eine gewaltbereite und gewalttätige Meute das Kapitol stürmte und unter anderem rief: „Hang Mike Pence!“ - hängt Vizepräsident Mike Pence. Fünf Menschen kamen ums Leben, Hunderte wurden verletzt, Abgeordnete entkamen mit knapper Not. Als Trump daraufhin weiter seine Verschwörungserzählungen verbreitete, war dann einfach mal Schluss. Lebenslange Sperre. Das hat Twitter aus meiner Sicht gut getan, wenigstens für eine Weile.
Elon Musk hat seine ganz eigene Sicht von „freier Rede“. Nun hat er eine Umfrage auf Twitter gestartet, ob die Sperre für Trump aufgehoben werden soll. Was der Faktenchecker-Blog mit dem etwas schrägen Namen „Volksverpetzer“ sehr treffend kommentierte:
#ElonMusk will darüber abstimmen lassen, ob #Trump wieder seine Lügen auf #Twitter verbreiten lassen dürfen soll. Das ist ironisch, weil Trump genau deshalb gebannt wurde, weil er demokratische Abstimmungsergebnisse nicht anerkennt.
https://digitalcourage.social/@Volksverpetzer/109370248114910953
Kurz: Natürlich und erwartbar hat eine, wenn auch durchaus knappe, Mehrheit von Elon Musk-Fans dafür gestimmt (51,8%) – und schon ist Trump wieder „frei“. Seine Tweets wieder da. Ob er überhaupt aktiv zurückkommen will, ist noch nicht sicher, ich kann mir aber nicht vorstellen, dass er der Versuchung lange widerstehen kann, hier wieder seine Verschwörungstheorien über die gestohlene Wahl zu verbreiten, die ihm selbst innerhalb der republikanischen Partei immer weniger Menschen glauben.
Nach dieser zugegeben in seiner Länge nicht Twitter-geeigneten Einleitung kommen wir nun endlich zur Sache. Zu dem Tweet, mit dem Elon Musk seine Umfrage und die daraus folgende Entscheidung (mehrfach) kommentierte:
Vox Populi, Vox Dei.
https://twitter.com/elonmusk/status/1594131768298315777
Zu deutsch: Stimme des Volkes, Stimme Gottes.
In der Tat eine alte und im Kern erst einmal gar nicht so falsche Vorstellung: Das „Volk“ soll bestimmen, wo es langgeht. Darauf bauen schließlich auch funktionierende Demokratien auf. Die beste Staatsform, die ich kenne. Die Frage ist nur: Wer oder was ist das Volk?
Bei einer demokratischen Wahl haben – zumindest theoretisch – alle die Möglichkeit, frei, gleich und geheim daran teilzunehmen. Wenn sie es nicht tun, ist das ihre eigene Entscheidung, in einigen Demokratien gibt es sogar eine Wahlpflicht. Nicht zu verwechseln ist das aber mit Internet-Abstimmungen oder gar mit Zusammenrottungen eines Mobs, ob virtuell oder auf der Straße.
Nehmen wir die Abstimmung über Trumps Rückkehr nach Twitter: 15 Millionen Stimmen wurden abgegeben. Das hört sich viel an – enstpricht jedoch, bezogen auf die Zahl der Musk-Follower (117 Millionen) einer „Wahlbeteiligung“ von gerade mal knapp 13 Prozent, eine Katastrophenmeldung für jede demokratische Wahl. Bezieht man es auf die Gesamtzahl der regelmäßig aktiven Benutzer*innen auf Twitter (230 Millionen), sinkt die „Wahlbeteiltigung“ auf schlappe 6,5%. Stimme des Volkes? Wirklich?
Zudem wird ja zu Recht bei den meisten Internet-Umfragen davor gewarnt, die Zahlen zu ernst zu nehmen. Das Phänomen ist bekannt: Insbesondere die, die das Thema in der einen oder anderen Richtung interessiert bewegen ihre Freunde dazu, mit abzustimmen. Dadurch wird das Ergebnis manchmal stark verzerrt. Einfache ja/nein-Abstimmungen im Netz sind daher immer mit Vorsicht zu genießen; komplexere Umfragen mit detaillierten Fragestellungen können dagegen oft gute Hinweise auf Motivationen und Grundüberzeugungen liefern. Doch selbst da ist es wichtig, genau darauf zu achten, wie gefragt wird. „Wollen Sie mit Ihrem Auto ungehindert duch die Stadt fahren können?“ ist eine andere Fragestellung als „Sind Sie dafür, dass die Kinder vor dem Kindergarten vor Autoverkehr geschützt werden?“ - obwohl sich beides möglicherweise auf die gleiche Situation bezieht.
Schauen wir auf die Straße. Wer ist das Volk? „Wir sind das Volk“, riefen die Menschen, die den Zusammenbruch der DDR mit einleiteten. Und wir neigen dazu, ihnen Recht zu geben. „Wir sind das Volk“ rufen die „Montagsdemonstranten“ von Pegida und heute diversen Anti-Corona-Demonstrationen und ähnlichem. Ohne weitere soziologische Untersuchungen ist es schwer, festzustellen, welche Gruppe tatsächlich die Mehrheit des Volks vertritt.
Und was ist mit den verschiedenen Ausschreitungen, die wir immer wieder erleben? Der Sturm auf das Kapitol. Die fremdenfeindlichen Aufstände in Rostock-Lichtenhagen vor 30 Jahren. Die „Reichspogromnacht“ vor 84 Jahren, Auftakt zu einer Judenverfolgung ungeahnten Ausmaßes, bei der Millionen ermordet wurden: Stimme des Volkes? Und vor allem: Stimme Gottes?
Letzteres halte ich für eine große Anmaßung, auch für die Fälle, in denen ich der „Stimme des Volkes“ zustimmen möchte. Nein: Nicht, was ich persönlich für die „Stimme des Volkes“ halte, ist gleichzeitig auch die „Stimme Gottes“. Nicht mal das, was ich für die „Stimme Gottes“ halte, muss es unbedingt sein. Mein persönliches mahnendes Beispiel dafür ist immer wieder Heinrich Institoris, der Autor des „Hexenhammers“, einer Art Handbuch zur Hexenverfolgung. Er hat großes Leid über viele Menschen gebracht, vor allem über Frauen. Und war doch der Überzeugung, er handle nach der „Stimme Gottes“.
Nun also – was ist dann die „Stimme Gottes“? Luther hatte, wenn auch in einem anderen Zusammenhang, darauf eine für mich überzeugende Antwort: „Was Christum treibet“. Also: Alles, was die Botschaft von Gottes Liebe voranbringt. Wenn wir das mit den Beispielen oben vergleichen, ist wohl klar: Gottes Stimme ist so ein gewaltbereiter Mob ganz sicher nicht. Wenn etwas oder jemand „Stimme Gottes“ ist, dann ist das für uns Jesus Christus. Was würde er tun? Das ist in politischen Fragen nicht immer leicht zu beantworten. Auch zur Frage „würde Jesus Trump auf Twitter zulassen?“ können wir nur spekulieren. Trotzdem kann es eine gute Richtschnur sein: Dient eine Entscheidung den Menschen, insbesondere den ärmeren und den Unterdrückten?
Klar ist: Auch Demokratien können sich durchaus in Richtungen enwtickeln, die ganz sicher nicht „Gottes Stimme“ entsprechen. Dann ist ziviler Widerstand für Christinnen und Christen angesagt.
Diese Erkenntnis ist eigentlich nicht neu. Zwar wurde die Formulierung im Lauf der Geschichte meistens auf das „Vox Populi, Vox Dei“ reduziert. Doch das gesamte Zitat aus einem Brief von Alkuin an Karl den Großen (ca. 798) lautet eigentlich anders:
Nec audiendi qui solent dicere: 'Vox populi, vox Dei', cum tumultuositas vulgi semper insani? proxima sit.
Zu Deutsch, von Wikipedia übernommen: „Auf diejenigen muss man nicht hören, die zu sagen pflegen, ‚Volkes Stimme, Gottes Stimme‘, da die Lärmsucht des Pöbels immer dem Wahnsinn sehr nahe kommt.“
https://de.wikipedia.org/wiki/Vox_populi_vox_Dei
Schade, dass Elon Musk das offensichtlich nicht weiß. Oder wohl eher nicht wissen will.
Auf Twitter herrscht dann wohl in Zukunft die gefühlte „Vox Populi“. Die Hassnachrichten und Kommentare nehmen überhand, selbst auf ziemlich normale Tweets. Ein Austausch der Meinungen scheint mir dort kaum noch möglich, Trump hin oder her. Mich finden sie auf Mastodon. Wir lesen uns.