Was mich jedoch wirklich schockierte und auch im zeitlichen Abstand immer noch beschäftigt, war ein Bild, das mehrmals zu sehen war: Ein Schild „Jesus 2020“ in der Farbgebung und im Stil der republikanischen Wahlplakate.
Hatte Jesus etwa zu diesem gewaltsamen Aufstand aufgerufen? War er dabei bei den Menschen, die hier Fensterscheiben einschlugen, Menschen bedrohten, letzten Endes verantwortlich waren für den Tod von fünf Menschen? Kann man denn alles, wirklich alles begründen mit „Jesus ist dabei, Gott will das so“? Ja vermutlich, das Thema hatten wir in der Kirchengeschichte leider schon viel zu oft. Ob nun Hexenverfolgungen oder Kreuzzüge oder viele andere Dinge: Christen (vermutlich deutlich seltener Christinnen) haben schon immer ihre eigenen Überzeugungen und Ziele mit denen Gottes gleichgesetzt und damit oft viel Leid in die Welt gebracht statt Liebe. Eine ziemlich schwere Last, die wir da nach 2000 Jahren mit uns herumtragen.
Zunächst einmal: Viele Anhänger*innen des abgewählten Präsidenten sind zutiefst gläubig. Das möchte ich ihnen gar nicht absprechen, auch wenn sie in vielen Einzelfragen ganz andere Überzeugungen vertreten als ich. Gut, ich würde mir wünschen, dass sie ihre Positionen nochmal gründlich überdenken. Aber sei’s drum. Für sie war der bisherige Präsident so etwas wie ein Bote Gottes. Er setzte vieles um, was sie sich wünschten. Er besetzte Gerichte mit konservativen Richterinnen und Richtern, die sich beispielsweise gegen ein Abtreibungsrecht wenden.
„Wenn sich nur alle Menschen auf Jesus berufen würden, dann wäre die Welt endlich gut“, so ungefähr denken viele von ihnen. Ein bisschen naiv, wenn wir bedenken, wie unterschiedlich wir unseren christlichen Glauben definieren. Trotzdem: Von der Sampey Memorial Baptist Church in Ramer, Alabama, ging die Idee aus, den Namen von Jesus sozusagen in die Welt zu bringen. Denn die Welt brauche Jesus. „Die Leute benötigen Jesus bei allem, was geschieht“, so begründet es Joyce Hubbard, Mitbegründerin der Initiative. „Er ist der einzige, auf den wir zählen können. Der einzige, der seine Versprechen hält. Er ist bereits der Gewinner.“ - so in einem Interview mit Foxnews. In Tausenden von Vorgärten in den ganzen USA standen am Ende die Schilder: JESUS 2020.
Lassen wir mal dahingestellt, was das nun eigentlich praktisch in der täglichen Politik bedeuten soll. So richtig klar ist mir das nämlich nicht. Aber die Vermischung der Auffassung „Jesus ist der Gewinner“ und „unser Präsident vertritt zentrale christliche Werte und ist von Gott gesandt“ erklärt vielleicht die große Enttäuschung und auch Ungläubigkeit, als die Wahlen in den USA zu einem anderen als dem gewünschten, ja geglaubten Ergebnis führten. In der Überzeugung vieler Menschen konnte es gar nicht anders sein, als dass Jesus nun auf der Gewinnerstraße ist und nun endlich seine Herrschaft errichtet.
So ist es zumindest nachvollziehbar, wenn auch in keiner Weise entschuldbar, was am 6. Januar im Kapitol in Washington geschah. Dass auch dieses Plakat „JESUS 2020“ dort in der Menge auftauchte, war eigentlich vorherzusehen. Dennoch erschütterte es mich – und auch andere, die davon auf Twitter berichteten – dass sein Name für einen solchen gewalttätigen Aufstand missbraucht wird.
Man könnte natürlich einwenden: Auch Jesus hat die Händler mit Gewalt aus dem Tempel geworfen. Ja, so erzählt es die Bibel. Aber selbst diese Aktion im, nennen wir es mal „heiligen Zorn“ hat sicherlich keine Menschenleben gefährdet. Jesus hat Tische umgeworfen, um den Tempel Gottes vom Handel zu „reinigen“. Er hat keine Menschen tätlich angegriffen. Im Gegenteil: Selbst bei seiner Festnahme heilte er den Soldaten, dem einer der Jünger ein Ohr mit dem Schwert abgehauen hatte. Mit einem „Jesus will es so“ andere zu bedrohen, ihr Leben zu gefährden: Das kann nicht das sein, was Jesus von uns will.
Ich hoffe sehr, dass auch unter denen, die voller Inbrunst so ein Plakat in den Garten stellten, irgendwann die Erkenntnis reift: Wir können nicht über Gott verfügen. Er ist nicht dann da, wenn wir das wollen. Und sein Wille entspricht nicht unbedingt dem, was wir uns wünschen. Das aber gilt nicht nur für diejenigen, die mit diesem Plakat das Kapitol gestürmt haben. Das gilt auch für uns selbst, die wir vielleicht andere Überzeugungen vertreten. Wie gut, dass dieser Satz im Vaterunser steht: Dein Wille geschehe.