Ich kann wirklich verstehen, dass unter den regelmäßigeren GottesdienstgängerInnen da ein gewisser Frust aufkommt, wahlweise auch mühsam verborgene Hochnäsigkeit oder ein gewisses Überlegenheitsgefühl. In meiner Jugend, lang ist‘s her, nannten wir diese Menschen „U-Boot-Christen“, weil sie nur einmal im Jahr auftauchen. Ein Begriff, der offenbar immer noch beliebt ist, denn ich las ihn in der diesjährigen Vorweihnachtszeit deutlich häufiger als sonst auf Facebook.
Manche Witze über diese Gottesdienstgruppe kommen regelmäßig wieder. Andere sind mir neu, etwa die Karikatur, in der ein Pfarrer die Gemeinde begrüßt mit „Viele von Ihnen waren vor einem Jahr zuletzt hier. Ich beginne daher mit einer kurzen Zusammenfassung der letzten zwölf Monate.“
U-Boot-Christen. Ich habe damals sehr lange über diesen Begriff nachgedacht und bin irgendwann zu dem Entschluss gekommen, dass ich ihn nicht mehr verwenden möchte. Zum einen: U-Boote existieren auch dann, wenn sie gerade nicht auftauchen. Eigentlich ist es sogar ihr Zweck, möglichst selten aufzutauchen. Aber sie sind da. Lassen wir den kriegerischen Aspekt der meisten dieser U-Boote jetzt mal völlig beiseite: Ein U-Boot arbeitet im Verborgenen. Das ist seine Bestimmung. Doch ab und zu muss es an die Oberfläche. Frische Luft reinlassen. Lebensmittelvorräte laden. Was man eben so zum Leben braucht. Nichts, wofür wir so ein U-Boot schief ansehen müssten.
Vielleicht verrichten einige von diesen U-Booten ja auch eine wirklich wichtige Arbeit, auch im Sinne der Gemeinde, aber die Gottesdienste sagen ihnen nicht so zu? Die einen sind im Asylhelferkreis. Die anderen singen in der Kantorei mit oder bedienen beim Gemeindefest am Kaffeestand. Wieder andere engagieren sich im Elternbeirat des kirchlichen Kindergartens oder tragen regelmäßig den Gemeindebrief aus. Andere sagen: „Die Gottesdienstzeit und auch die Form passen mir nicht, aber ich bete für die Gemeinde.“ Können wir diesen vielen U-Booten denn den Glauben absprechen, nur weil sie nicht am Sonntagmorgen um halb zehn auftauchen?
Als Citykirchenpfarrer habe ich viel mit Menschen zu tun, die der Kirche nicht sonderlich nahestehen. Und sehr häufig erlebe ich, dass sie irgendwie doch ein schlechtes Gewissen haben, weil sie eben nicht Sonntag für Sonntag in der Kirche zu sehen sind. Ja, diese Vorstellung vom U-Boot hat sich auch in ihren Köpfen breitgemacht: Ein guter Christ, eine gute Christin ist nur, wer jeden Sonntag auftaucht. „Ich glaube ja schon an Gott, Herr Pfarrer, aber ich gehe nicht jeden Sonntag in die Kirche.“
Seit vielen Jahren sage ich diesen Menschen einen Satz, der viel ernster ist, als er auf den ersten Blick wirkt:
Auch wer jedes Jahr an Weihnachten in die Kirche geht, geht regelmäßig.
Die meisten schauen erst mal etwas verdutzt, bis sie verstehen, was gemeint ist. Schon rein mathematisch ist dieser Satz ja richtig: Es gibt eine nachvollziehbare Regel, in welchem Rhythmus jemand den Gottesdienst besucht: Einmal im Jahr an Weihnachten. Also gemäß dieser Regel.
Dann spüre ich bei vielen förmlich die Erleichterung, dass ihnen ihr Fehlen an den übrigen 51 Sonntagen im Jahr nicht zum Vorwurf gemacht wird. Die Gesichter hellen sich auf: Der Pfarrer ist mir nicht böse.
Warum sollte ich auch? Ich möchte mich freuen an jeder und jedem, die oder der kommt. Vergnügt, erlöst, befreit will ich Gottesdienst feiern mit der Gemeinde. Will die Gelegenheit nutzen, sie bei den Dingen anzusprechen, die sie gerade bewegen. Auch wenn die möglichen Themen ein wenig eingeschränkt sind, weil es halt jedes Mal um Weihnachten geht: Wenigstens das bleibt dann vielleicht hängen. Irgendwas mit kleinem Kind, Liebe, Erlösung, Licht der Welt. O du fröhliche und Stille Nacht. Wenn sie dann aus der Kirche gehen mit einem frohen Herzen und ohne schlechtes Gewissen, dann ist schon viel erreicht.
Über die übrigen 51 (bis 53) Sonntagsgottesdienste im Jahr müssen wir reden. Darüber, warum sie immer weniger Menschen ansprechen. Darüber, warum sie nicht die gleiche Wirkung auf die Menschen haben wie der überfüllte Weihnachtsgottesdienst. Darüber, wie wir unsere Botschaft von Gottes Liebe fröhlich und überzeugend weitergeben können. Vielleicht finden wir ja Wege, die den einen oder die andere bewegen, auch mal unterm Jahr aufzutauchen. Aufzutanken. Und wenn nicht, dann zumindest nächstes Jahr an Weihnachten wieder dabei zu sein. Frohe Weihnachten!