Brauchts noch Kirche?

Brauchts noch Kirche?
Statt vorschnell mit "Ja" oder "Nein" zu antworten, sollte die Frage eher lauten: "Wieviel Kirche, und wo und wann?"

Alle großen Institute, Parteien usw. haben ja Konkurrenz durch die neue Unmittelbarkeit. Du kannst vieles selber erreichen über das Netz, deinen Lieblingen auf Insta zuschauen und ihnen Likes schicken. Wieso dann noch eine Agentur, eine Vertretung der Person, einen Makler? Selbst Banken sind verdächtig, wo man doch mit Bitcoin selber Geld generieren und verwalten kann.

Die Reformation war der Startschuss zur religiösen Unmittelbarkeit zu Gott. Keine Mittler mehr nötig, die katholische Kirche hatte ihre Makler-Funktion mißbraucht. Ihre Selbstbenennung als "heiliges Institut" war und ist verkommen als diktatorisches Mittel.

Wer jetzt alles selbst wählen kann, muss bewerten lernen. Das verlegt alle Beziehungs-Kompetenz ins Individuum und wird es auf der Langstrecke überlasten. Wie viele Entscheidungen werden einem Kind abgenommen, damit es erstmal unbeschwert leben kann -  Kleidung, Tagesrhythmen, Aufenthaltsort usw.. Beschützende Instanzen können das Leben erleichtern.

Aber schon entstehen im unvermittelten Netz neue Makler, die einem die Auswahl (Versicherung, Energie, Schulform) abnehmen möchten -  gegen Geld. 

Je weniger Kirche zwischen der allgemeinen Wahrheit und dem Einzelnen vermittelt, desto mehr religiöse Quatschköpfe, Heilande und auch spirituelle Könnerinnen melden sich zu Wort. Das ist ok. Aber mir graut vor dem Tag, wo Kirche mit ihrem langsamen, öfter reaktionären und bedächtigen Modus abgewickelt wird und viele kleine 'Kirchen', also missionarische Gruppen entstehen, die tun, was sie schon immer wollten. Das wird anfangs charmant anarchisch, und wie in jeder Anarchie werden eine Menge Leute dran glauben müssen - im Doppelsinn des Wortes. Das Stärkste gewinnt, und wer weiß, was dann regiert ...?

Das alles spiegelt auch eine Verfassung in uns, die ja innen wie außen gilt: wir selber sind regelhaft verfasst gläubig/überzeugt, weil wir vieles vertreten, was die Kirche auch vertritt (Feiertags-Freizeit etwa). Das erleichtert vieles, weil man sich leichter verständigen kann. Würde ich sagen sollen, zu wie viel Prozent ich verfasst christlich bin, dann käme ich auf unter 50, eher 35 bis 40 Prozent. Der Rest ist jüdisch, philosophisch, psycho-ästhetisch unterwegs - ohne Verfassung.

Spreche ich also mit Freunden über die Notwendigkeit von Kirche, dann könnte aus dem blöden "Entweder-Kirche oder Nicht-Kirche" eine quantitative Bestimmung werden. Man ist ja auch nicht 100 Prozent Vegetarier oder Radfahrerin. Alles in bestimmten Verhältnissen und Widersprüchen. Denn wo Reinheitsgebote sozial dominant werden, wächst bald nichts mehr und es gibt Tote. 

Auch Kirchenverächter nehmen teil an kirchlichen Errungenschaften: Strafe bei unterlassender Hilfeleistung, Sonntagsfreiheit, Menschenwürde des Einzelnen, Diakonie. Sie wählen diese Partei halt nicht mehr, leben aber unter anderem von deren Einsatz, wenn Oma in die Pflege muss. Wie viel Prozent Ertrag aus sinnvollen kirchlichen Erfolgen für die Gesellschaft wären das - vielleicht 25?

Also wie immer: in Ruhe die Verhältnisse zu bestimmen hilft gegen 'schwarzweiß', denn 'schwarzweiß' will vernichten, aber ich will verstehen.