"GESEHEN WERDEN"

"GESEHEN WERDEN"
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten und zuversichtlich sein.

Letzten Samstag war ich ein bisschen zufällig im Sprengelmuseum in Hannover. Dort zeigte die iranisch-deutsche Künstlerin Farzane Vaziritabar ihre Performance GESEHEN WERDEN.

Auf dem Boden lagen dutzende bunte Schaltücher. Farzane Vaziritabar hob sie schweigend eins nach dem anderen auf und legte sie über ihren Kopf: einfarbige, bunte, mit Vögeln darauf, Karos, Leopardenmuster, Blumen. Eins sah aus wie das Tuch, meins, das ich am liebsten habe, weil es mich an einen geliebten Ort erinnert: mit Rosen und Fransen. Farzane Vaziritabar hob auf, faltete, legte, hob auf, faltete, legte. Bis sie immer mehr verschwand unter all dem Stoff. Bis ihr Gesicht immer kleiner wurde, ihr Körper eine immer weiter wachsende Skulptur aus all dem, was auf auf uns liegt. Was auf Frauen gelegt wurde. Auf die Frauen im Iran. Diese todesmutigen sich widersetzenden Frauen, die ich auf TikTok und Instagram und Twitter sehe seit Wochen, seit Mahsa Jina Amini vom Regime ermordet wurde, weil ihr Kopftuch nicht richtig gebunden war. Das letzte Tuch, das Farzane Vaziritabar aufhob, faltete und über ihren Kopf legte, war schwarz. Und dann: Stille.

In dem Moment, als es nicht mehr auszuhalten war, als ich am liebsten aufgesprungen wäre und irgendetwas getan hätte, aber das tut man ja nicht in einem Museum - in diesem Moment also ging eine Frau herum und verteilte kleine Zettel mit dem Text: Bitte nehmen Sie der Künstlerin einen Schal ab und hängen ihn an die nahegelegenen Haken. Und das taten wir. Alle. Wir standen Schlange. Manche, auch ich, zweimal. Am Ende hingen all die Tücher an Haken an unsichtbaren Fäden. Eine bunte leichte schwebende im Vorbeigehen sich leise bewegende Installation. Am Ende zog Farzane Vaziritabar wieder ihre Schuhe an und verbeugte sich.

Ich weiß keine Moral-von-der-Geschicht. Ich weiß nur, dass mir die Tränen kamen und ich das hier für euch aufschreiben musste. Ich weiß nur, dass der Freund mir am gleichen Tag sagte, Gott werde die Erde erhalten und verwandeln durch allen Schmerz und alle Angst und alle Zerstörung hindurch. Und dass ich heute glaube, dass das stimmt.

 


Wochenaufgabe (zuallererst für mich selbst):

Glauben üben. Und Zuversicht.

 


Weiterlesen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Mahsa_Amini

https://farzane.art/

https://www.sprengel-museum.de/museum/aktuelles/performance-vaziritabar