Im 19. Jahrhundert, als die Fotografie noch in den Anfängen war, erfand man die „Hidden Mother Photography“. Die (meist) Mutter hatte das zu fotografierende Baby oder Kleinkind auf dem Schoß, damit es während der damals nötigen langen Belichtungszeit möglichst still hielt, sie wurde dabei aber von Tüchern und Decken verhüllt, so dass sie später auf dem Foto nicht zu sehen war.
Heute wirken diese Bilder verstörend. Und doch stehen sie in einer langen Tradition, die bis heute anhält: die der unsichtbar gemachten Frauen. Eins der wichtigsten theologischen Werke noch des 20.Jahrhunderts wurde vermutlich etwa zur Hälfte von einer Frau, nämlich Charlotte von Kirschbaum, geschrieben. Auf den 13 Bänden der „Kirchlichen Dogmatik“ steht als Autor aber nur ein Mann: Karl Barth. Auch heute noch kennen sicher viele Frauen dieses Meeting-Phänomen: ihre Redebeiträge werden lächelnd übergangen, einige Zeit später sagt ein Mann das Gleiche in etwas anderen Worten - und zack! ist es eine großartige Idee. Auch meine Texte und Gedanken wurden schon öfter fast wörtlich von Männern übernommen, ohne dass sie um Erlaubnis gefragt, sich bedankt oder mich als Quelle genannt hätten. Noch schlimmer sieht es aus, wenn Frauen in traditionell „weiblichen“ Bereichen arbeiten: dort wird ihre Arbeit schlecht oder gleich gar nicht bezahlt. Die mehrheitlich von Frauen geleistete unbezahlte Care-Arbeit findet sich in nahezu keiner Wirtschaftsberechnung, obwohl es völlig klar ist, dass ohne sie absolut nichts mehr ginge.
Vor ein paar Wochen flog nun durch meine Twitter-Timeline eine erstaunliche Predigt: "Mary the Tower" von Diana Butler Bass.
In ihr geht es ebenfalls um eine unsichtbar gemachte Frau: Maria Magdalena.
Und jetzt kommt der Nerd-Content:
Eine junge Theologin namens Elizabeth „Libbie“ Schrader hat auf einem winzigen Stück antikem Papyrus entdeckt, dass eventuell jemand im Johannesevangelium aus dem Wort „Maria“ das Wort „Marta“ gemacht hat - was im Griechischen ähnlich einfach ist wie im Deutschen. Wenn sie damit recht hat, dann wäre die Frau aus Johannes 11 nicht jene Marta, die im Lukasevangelium als umsichtige Hausfrau gilt - sondern Maria Magdalena.
Das würde bedeuten: Maria Magdalena ist 1. Augenzeugin der Kreuzigung Jesu (das wußten wir schon vor Schraders Entdeckung) / 2. Augenzeugin der Auferstehung Jesu (auch das wußten wir schon) / 3. (das ist neu!) Sie spricht eins der wichtigsten Bekenntnisse in den Evangelien, mindestens so wichtig wie das des weitaus berühmteren Petrus: „Ich glaube, dass du der Christus bist, der Sohn Gottes, der in die Welt gekommen ist.“ (das hielten wir bisher für ein Bekenntnis von Marta, die ansonsten keine wirklich große Rolle spielt.) und 4. (auch neu!) ist Maria „Magdalena“ keine Angabe ihrer Herkunft („aus dem Dorf Magdala“, es gibt nämlich tatsächlich auch gar keinen Beleg für ein Dorf namens Magdala zu dieser Zeit), sondern ein bedeutender Ehrentitel: „Maria der Turm“ (vergleichbar mit „Petrus der Fels“, das aramäische „Magdala“ bedeutet „Turm“. Aramäisch war Jesu Muttersprache - und die von Maria Magdalena).
Ich selber habe nur mit Ach&Krach meine Altgriechisch-Prüfung bestanden und bin die Letzte, die beurteilen kann, ob Schrader recht hat. Aber eine Kommission, die für den Originaltext des Neuen Testaments zuständig ist, prüft den Fall, was eine echte Seltenheit und Sensation ist.
Worüber ich seither nachdenke, sind die Reaktionen auf diese eventuelle Sensation. Einige evangelische Männer kommentierten nämlich, das sei ja gar nicht so sensationell, man habe ja schon immer gewußt, dass Maria Magdalena wichtig sei, Bekenntnis und Titel hin oder her. Und für die heutige Theologie hätte das keinen größeren Impact, außer vielleicht in der katholischen Kirche, aber nicht bei uns. Auf eine sehr spezielle Art wird so die unsichtbar gemachte Maria Magdalena noch einmal unsichtbar gemacht, indem man behauptet, sie sei es ja gar nicht. Die bahnbrechende Arbeit von Schrader ebenso.
Mich erinnerte das an eine mündliche Prüfung im Theologischen Examen an der Uni. Mein Thema war „Frauen in den frühen Gemeinden“ und ich konnte zeigen, dass in den ganz frühen Gemeinden Frauen einen großen Einfluss hatten, der dann später zurückgedrängt wurde. Der Professor fand das alles richtig, er sagte aber auch, dass es doch kein Argument sei für etwas heute. Denn das ältere sei ja nicht automatisch das richtigere. Er hatte, wie vermutlich manche der Männer auf Twitter, nie erfahren, was es bedeutet, erst einmal nicht repräsentiert zu sein in den Hörspielen auf den Kinderkassetten, den Pflichtlektüren im Deutsch-Abi, den unzähligen von Texten im ganzen Studium. Er wußte nicht, wie es für eine Frau war, immer nur Geschichten und Gedanken zu hören, die allgemeingültig sein wollten, in denen aber keine einzige oder höchstens eine schweigende schöne Frau vorkam. Er kannte das nicht, dass er sich immerzu dauernd identifizieren mußte mit welchen, die ihn verachtet hätten. Und deshalb wußte er auch nicht, was es dann bedeutet, im heiligsten aller Texte plötzlich Frauen zu entdecken, echte Identifikationsfiguren, mit echten Geschichten und Gedanken, keine von einem Mann abgeleiteten und / oder erdachten Figuren - und damit: endlich sich selbst zu sehen. Nicht mehr unsichtbar zu sein.
So geht es mir auch jetzt mit „Maria der Turm“. Ich stelle mir vor, in der Kinderkirche hätten sie mir nicht dauernd nur von Petrus und Paulus und Ludwig Nommensen erzählt, sondern von ihr: eine Frau ohne Ehemann, ohne Kinder, die beste Freundin Jesu. Die wie ein Turm war, wie ein weit sichtbarer, sicherer Ort. Sie hätten gesagt: Sie ist ein Vorbild. Glaube wie sie. Weiche dem Schmerz nicht aus und nicht der Liebe. Sei sichtbar! Sei groß. Hab in dir Platz für vieles.
Wäre Maria der Turm ein signifikanter Teil meiner religiösen Sozialisation gewesen, wäre es ein Wert für fromme Mädchen gewesen, sichtbar zu sein, groß und mit Überblick - womöglich wären meine Liebesgeschichten anders verlaufen, mein Verhältnis zu meinem Körper wäre ein anderes gewesen, mein Verhältnis zur Welt, mein Verhältnis zu meiner Arbeit. Die ganzen internalisierten Botschaften vom Verkehrtsein, vom sich-kleiner-machen-Sollen, vom bitte nicht anstrengend sein, bitte dünner, dümmer, leiser, bitte immer smooth und lächeln nicht vergessen - vielleicht hätten sie keine oder zumindest viel geringere Chancen gehabt, wenn nicht irgendjemand Maria den Turm aus dem kulturellen Gedächtnis gelöscht hätte.
Und wenn das schon für mein kleines Leben so wäre, wie wäre es erst für die ganze Geschichte der Kirche gewesen. Wieviel Impact das gehabt hätte. Wie anders unsere Theologie geworden wäre, wäre Maria der Turm all die Jahrhunderte sichtbar geblieben.
Aber da es ja nie zu spät ist dazuzulernen, schlage ich folgende zwei Wochenaufgaben vor:
Google ein Bild von Maria Magdalena, das dir passend erscheint (Spoiler: gar nicht so einfach). Drucke es aus und befestige es gut sichtbar im öffentlichen Raum.
Denke zur Abwechslung mindestens einmal diese Woche groß von dir.