Tintenherz-Vorstellungen

Wenn Kinderbücher und Kindergebete wahr werden
Tintenherz-Vorstellungen
Was wäre, wenn ich in die Bibel reinginge? Oder wenn Jesus rauskäme?

Ich bin ein Fan von Kinderbüchern. Die Brüder Löwenherz von Astrid Lindgren (wegen Nangijala und der Geschwisterliebe). Emil und die Detektive von Erich Kästner (wegen Berlin und des kleinen Dienstag). Momo von Michael Ende (wegen Beppo, „Schritt - Atemzug - Besenstrich“, und Kassiopeia, der Rückwärtsschildkröte). Simpel von Marie-Aude Murail (wegen Monsieur Hasehase, der für Simpel mal lebendig ist und mal ein Stofftier, denn "man betrat seine Welt nicht, ohne dazu eingeladen worden zu sein".) … Ich habe ein ganzes Regal voller Kinderbücher. Jetzt kam eines dazu. Tintenherz. Von Cornelia Funke. Es ist mir ein Rätsel, warum ich es noch nicht kannte.

Es ist ein bisschen wie in der Unendlichen Geschichte von Michael Ende. Die Ebenen verschieben sich. Hier ist es Bastian, der von einer Welt in eine andere tritt. Beim Tintenherz geht es hin und her. Wie das funktioniert, verrate ich nicht.

Als ich es las, dachte ich, wie es wohl wäre, wenn mir das passierte. Wenn ich zum Beispiel in die Bibel hineinstiege, ins Damals. Oder Figuren aus der Bibel herauskämen, ins Heute. Man hört ja immer wieder, Jesus sei da. "Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast", beten schon die Kinder, auch wir damals. Doch als mein Bruder Platz machte auf der schmalen Küchenbank und wir Geschwister zusammenrückten für "unseren Gast", verstanden die Eltern nicht, was vor sich ging.

Hier und dort, echt und nicht-echt. Das funktioniert in der Kinderwelt. In der Erwachsenenwelt nicht. Am ehesten vielleicht noch bei den Passionsspielen in Oberammergau. Da wird man unweigerlich Teil des Stückes und das Stück Teil des eigenen Lebens. Das liegt schon am Ort, an dem inmitten des Dreißigjährigen Krieges die Pest wütete, so dass die Menschen gelobten, alle zehn Jahre das "Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen" Jesu Christi aufzuführen, sollte die Pest zu Ende gehen. Tatsächlich starb darauf niemand mehr an der Seuche.

Vor allem aber liegt es am Passionsspiel selbst. Man ereifert sich mit Jesus, wenn er die Priester zurechtweist: "Ihr lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben!" Man fällt mit Judas, wenn der Chor singt: "Seht, Judas stürzt ins Dunkel hin!" Man leidet mit ihm, wenn er ruft: "Wo gehe ich hin, meine Schande zu verbergen, meine Qualen abzustreifen? Kein Ort ist finster genug, kein Meer ist tief genug!" Und sich das Leben nimmt. – All das ist unglaublich existentiell.

Und doch bleibt es ein Spiel, und man bleibt Zuschauerin. Man sieht Judas in der Pause durch die Gegend schlendern, und man begegnet Jesus, während sein Bruder einem den Käsekuchen serviert.

Käme Jesus tatsächlich in unser Leben, wäre er vermutlich verwirrt. Ukrainekrieg. Klimawandel. Internet. Nichts davon gab es in seiner Zeit. Wie würde er sich zurechtfinden, heute?

Wenn ich in die Bibel einstiege, wäre ich erledigt. Ich würde versagen, auf ganzer Linie. Wie die Jünger würde ich am Ölberg einschlafen. Wie sie hätte ich Todesangst, wenn der Sturm um unser Boot tobt und Jesus schläft. Wie Maria Magdalena wäre ich verzweifelt, wenn ich das leere Grab sähe. Nur: Anders als sie würde ich Jesus nicht erkennen, wenn er mich anspräche. Glaub ich.

Vielleicht stimmt Murails Satz ja auch hier: "Man betrat seine Welt nicht, ohne dazu eingeladen worden zu sein." Und es funktioniert nicht, einfach so in die Bibel reinzugehen. Vielleicht ist es besser, hierzubleiben. Und Kinderbücher zu lesen. Schritt - Atemzug - Besenstrich. Vielleicht ist es sinnvoller, Kindergebete zu sprechen. Und sie wörtlich zu nehmen.

Komm, Herr Jesus, sei mehr als mein Gast. Ich mach dir auch Platz auf meiner Küchenbank.