Novemberblues

Novemberblues
Der Totenmonat: Und doch ist Einer, der das Fallen …

Es gibt Aufbruchsmonate, Fröhlichkeitsmonate, verkleidete Monate, Raus-in-die-Natur-Monate, Das-Leben-ist-schön-Monate, Dreimal-werden-wir-noch-wach-Monate. Und es gibt den November. Das Ende der Sommerzeit. Der Abschied vom Licht, vom Leben. Allerseelen. Totengedenken. Dunkelheit. Als sei der Monat nicht schon trist genug.

Ich kenne wenige, die den November mögen. Mir geht es nicht anders. Ich mochte den November nie. Seit zwei Jahren freilich noch weniger, nach dem Mord in Berlin. Zwei Jahre! Mein Gott … Es ist, als sei die Zeit stehengeblieben. Als habe es das Davor nie gegeben. Und ein Danach scheint unvorstellbar. Immer noch. November ist der Totenmonat.

Rilke fällt mir ein, sein Herbstgedicht, weil er so recht hat mit dem, was er schreibt: Die Blätter fallen, fallen wie von weit, / Als welkten in den Himmeln ferne Gärten, / sie fallen mit verneinender Gebärde. // Und in den Nächten fällt die schwere Erde / Aus allen Sternen in die Einsamkeit. Auch der Bruder fiel, fiel wie von weit, er fiel tatsächlich mit verneinender Gebärde. Er fiel aus all den Sternen seines schönen Lebens in die Einsamkeit. In seine, unsre, meine. Wir alle fallen ...

Seither hat der November seinen Zauber verloren. Ja, auch den gibt es, die langen Abende mit Lesen und heißem Kakao, mit Musik und Zeit. Doch seit zwei Jahren ist der November der Moll-Monat unter den Dur-Gesellen. Der Bruckner unter den Mozarts.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt. / Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Wut mischt sich in meine Trauer. Wut ist gut, sagt man, da kommt raus, was raus muss. Da nimmt Gestalt an, was in uns ist, damit es uns nicht zerfrisst und zerstört, vertilgt und vernichtet. Ich bin wütend auf den Täter, wütend auf das Leben. Wütend auf Gott. Ich verstehe nicht, warum er erst ein Leben voller Begabungen schafft und es dann so sinnlos enden lässt. Immer wieder stehe ich am Fenster und rufe tonlos himmelwärts: Gott, der du die Menschen und das Leben liebst, warum hast du den Mord nicht verhindert? Antworte mir. Antworte!

Doch ich bekomme keine Antwort. Natürlich nicht. Was sollte er mir auch sagen? Denn ich weiß, tief im Innern, dort, wo mein Zorn und meine Trauer wohnen, dass Gott mit der Tat nichts zu tun hat. Es gibt Leute, die glauben, dass es einen göttlichen Plan gibt, fürs Leben und fürs Sterben. Was für eine absurde Vorstellung. Nie und nimmer hatte Gott geplant, was in Berlin geschah. Das glaube ich nicht. Ich will es nicht glauben. Denn wenn ich es glaubte, wäre mein Glaube dahin. Aber ich glaube. Und ich glaube an die Kraft des Glaubens. Und wenn es mir schwerfällt zu glauben, versuche ich, auf meinen Glauben zu vertrauen, wenigstens das. Und den November auszuhalten. Dann schaffe ich es auch, den Schluss des Rilke-Gedichtes zu lesen.

… Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen / Unendlich sanft in seinen Händen hält.

Der November wird dadurch nicht zu einem Das-Leben-ist-schön-Monat. Auch fröhlich wird er nie mehr werden. Er bleibt der Totenmonat, auch für mich. Aber in sein Moll mischt sich ganz langsam ganz leise Hoffnung. Die Hoffnung, dass es irgendwann ein Danach gibt. Dass die Tage heller werden. Dass das Licht wiederkommt.

Und das Leben.