Toni Dedio studiert Englisch und evangelische Theologie auf Lehramt in Göttingen, ist Fan von Sprachen aller Art und bezeichnet sich selbst als “G*ttes Regenbogenschaf im Rolli”. Auf Instagram teilt Toni unter @dynamiskaidoxa Erfahrungen als körperlich behinderte, feministische queere Christ*in.
Am Mittwochabend wurden im Wohnheim Thusnelda-von-Saldern-Haus in Potsdam-Babelsberg vier behinderte Menschen getötet, eine weitere schwerstverletzt. Getötet, in ihrem Zuhause. Tatverdächtig ist eine Pflegekraft.
Ich, selbst körperlich behindert, hörte von dieser Gräueltat erst am Freitagmorgen. Normalerweise halte ich mich für relativ gut informiert. Warum also hatte ich keine Ahnung. Stille war der Grund. Ich recherchierte, wollte mehr herausfinden über den Tathergang, die Situation. Doch Fehlanzeige. Kaum eines der großen deutschen Medienhäuser hielt es offenbar für nötig, darüber zu berichten. Wenn doch - wie im Fall der Tagesschau - dann in Form eines ziemlich knappen Berichts am Ende der Sendung. Das wars. Die Bestürzung, das Bedauern war und ist nach wie vor groß. Die Verbitterung in mir auch.
Instagram war in puncto Information deutlich aufschlussreicher. Doch eins fiel mir direkt auf. Das Informieren, das Verbreiten, alles was dazugehört, ging (fast) nur von Menschen aus, die selbst behindert sind. Interviewt wurden unmittelbar nach Bekanntwerden der Tat Psychologen, Polizei, Pfarrer - jedoch niemensch mit Behinderung.
Plötzlich nahm ich meinen Atem wahr. Mein Atem, der mich leben lässt und diesem vernarbten, behinderten Körper ein selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Und ich zittere. Realitätscheck. Die Opfer waren behindert. Ich bin es auch. Ich hätte, wären Dinge in meinem Leben anders gelaufen, auch in einem solchen Wohnprojekt wohnen können. Ich atme aus, bin in diesem Moment dankbar, dass ich es nicht tue.
In Zeiten vor Corona sprach mich ein nicht-behinderter Kommilitone an, nachdem ich gerade gegen den Bürokratiedschungel gewettert hatte, der auf Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen zukommt, wenn z.B. Assistenz beantragt werden soll.
,,Ich verstehe eigentlich gar nicht, was dein Problem ist: Inklusion in Deutschland ist doch bestimmt kein Thema mehr. Ich dachte, dass hätten wir längst im Griff.”
Wäre ich nicht angeschnallt gewesen, wäre ich vor lauter Lachen aus meinem Rollstuhl gefallen. Dann wies ich ihn - mittlerweile recht zynisch - darauf hin, dass wir uns gerade in einem Seminar zu Inklusion im Schulalltag befinden würden, welches im größten Hörsaal der Universität stattfindet. In den ich mit Rollstuhl kaum hereinfahren, geschweige denn mir einen Platz aussuchen kann. Ich war dazu genötigt, das Pult meines Dozenten zu nutzen, saß fernab von Freunden. ,,Bitte, so setze sich doch jemand neben Sie.” Nett gemeint, aber mal wieder bin ich jemand, der nicht inkludiert werden kann. Die Situation entbehrt nicht einer gewissen Ironie.
Ableismus (also die Diskriminierung gegen behinderte Menschen) passiert zumeist unterbewusst, unbewusst und ist strukturell. Für viele Menschen ohne Behinderung eine neue Tatsache. Betrifft sie ja nicht, oder? Doch an Potsdam sieht mensch: Ableismus tötet. Ableismus ist kein Behinderten-, sondern ein Menschheitsproblem. Stille war noch nie so laut.
Mehrheitsgesellschaft statt Minderheitenbubble und Hinwegsehen.
Es kann, nein, es darf nicht sein, dass behinderte Menschen im Blickfeld nicht-behinderter Menschen eine Randerscheinung sind. Fakten sprechen eine andere Sprache. Jeder zehnte Mensch in Deutschland lebt mit einer (Schwerst)Behinderung. Die Alltagsrealität sieht momentan, für mich als Mensch mit sichtbarer Behinderung so aus: entweder wird mensch konsequent ignoriert, bekommt die Selbstständigkeit aberkannt, oder mensch wird angestarrt - wie im Zoo. Für Menschen, die nicht behindert sind, ist behindert zu werden, so etwas wie der Super-GAU. Was suggeriert das bei Menschen wie mir, die ihr Leben lang behindert sein werden? Spoiler: behindert zu sein, behindert zu werden, kann jedem Menschen passieren.
Eigentlich geht mensch davon aus, dass die Situation in christlichen Kontexten anders aussieht. Doch auch hier. An vielen Ecken Ableismus pur. Wenn ich ,,Hast du schon einmal versucht, mehr zu beten? Vielleicht kannst du dann ja endlich laufen.” nochmal höre, dann platzt auch irgendwann mein Kragen. Auch bei aller christlichen Nächstenliebe. Als wäre die Fähigkeit zu Laufen das Maß aller Dinge.
Gerd Reimann, Polizeipsychologe, sprach am Tag nach der Tat über das mögliche Motiv. ,,Es kann aber auch sein, dass eine Motivation dahintersteht, die Leute zu erlösen von Leiden, die vielleicht sogar unheilbar sind.“ Mord als ,,Gnadentod” also. Sagt mal, gehts noch? Hatten wir diese Denke nicht schonmal, so um 1940/41? Anne Wizorek, Aktivistin, schreibt: ,,Gerade Deutschland ist durch eine gewaltvolle und tödliche Geschichte für Menschen mit Behinderung geprägt. Bis heute gibt es keine Aufarbeitung dazu und dementsprechend kein entsprechendes Bewusstsein dafür.” Wir sind keine Menschen zweiter Klasse, waren es nie.
Sprache hat Macht. Denkt dran, wenn ihr mit und doch bitte nicht (nur) über uns sprecht. Hier wird verharmlost, der Blick von den Opfern zu Tätern gelenkt. Das muss aufhören.
,,Wenn sie schweigen, dann werden die Steine schreien.” Ein Ausschnitt aus dem Predigttext zu Kantate. Die Steine schreien und alle, die nicht wollen, das die Welt so ein Ort bleibt, sondern zu einem anderen, inklusiveren Ort wird. Ich bete. Verzweifelt, für alle Opfer von Behindertenfeindlichkeit. Bete für Veränderung. Doch Beten allein hilft nicht. Gebet und Gedanken müssen Taten folgen. Ich fordere, dass auch Menschen ohne Behinderung sich solidarisieren, mit mir, mit uns. Denn wir sind laut, hört uns endlich! Nutzt die Privilegien, die euch euer Fehlen von Behinderung in dieser Gesellschaft einräumt.
Christ*in zu sein bedeutet für mich, gegen Unrecht anzukämpfen. Behinderte Christ*in zu sein, bedeutet für mich: ich bin nicht schwach - oder schutzbedürftig. Ich bin kraftvoll, lebenswert, geliebt, gewollt: G*ttes Ebenbild.