Vergleich der Schmerzen

Vergleich der Schmerzen
Was uns Corona beschert, was meinen Vorfahren ihre Zeit bescherte und was am Horizont auftaucht

Ich bin seit kurzem 66. Genau so alt wurde meine Mutter.
Ich bin mehrfach am Tod vorbei geschrammt.  Stammend aus Eltern, die am Tod entlang lebten. Mutter Vollwaise, Vater Halbwaise, kriegsversehrt. Ich träumte als kleiner Mensch das Feuer, das er erlebt hatte, als seine Familie erstickte. Die Mutter sah die winzige Tochter, meine Schwester, auf dem Bahnhof mit einer Tomate in der Hand stehen, während ihr Flüchtlingszug losfuhr. Bis ein Russe ihr die Kleine durchs fliehende Fenster hereinreichte. Ich höre die Schreie körperlich.
Ich mag mich verneigen vor ihnen, immer wieder mal verneigen.



Hineingeboren  -  ich - in einen langen europäischen Frieden, in volle Kühlschränke und Luxusreisen. 

Was wollte ich jetzt meinem Vater erzählen ? Reisebegrenzung, Kontaktbeschränkung, Familienstress und Pleiten wegen Corona. Er würde mich ansehen. Jahrgang 1913. Nicken. "Ja, ist nicht so leicht -" würde er sagen. "Geht vorbei -" würde er sagen. "1929 ging die halbe Welt pleite am 'Schwarzen Freitag'. Tausende haben sich damals das Leben genommen." 
(Heute feiert man unter diesem Namen eine Konsum-Party.)
"Nein, Jugend hatten wir nicht,"  - würden beide Eltern sagen. "Welche Jugend? Wir wollten, dass ihr es besser habt, das war's. Und ihr habt irgendwas gemacht daraus, das wir nicht verstehen." Würden sie sagen - haben sie gesagt.

Nein, fraglos, es ist schwierig, was wir grad erleben. Es fordert den Wohlstand heraus, das Ererbte. Es stoppt die kulturelle Vielfalt, die sich so wunderbar ausbreiten konnte jenseits der Panzer und Bomben. Opernhäuser, so weit das Auge reicht. Aufführungen auf jeder Treppenstufe, Frieden auf den Straßen, so viel Frieden, dass es den radikalen Querdenkern schon langweilig wird. Die fühlen sich ja erst, wenn es Feinde gibt.

Nur: ich mag meinen Eltern mit diesem Zustand nicht verzweifelt unter die Augen treten. 

Es gibt wohl kein Menschenrecht nicht überfordert zu sein. Oder andersrum gesagt: es gibt das Recht mit dem Leben nicht klarzukommen. Meine Eltern sind überrollt worden und mussten das halbe Leben drangeben nur um überhaupt zu atmen.

Ich konnte als Nachgeborener im fetten Europa mit euch zusammen schon von Anfang an Luft holen. Ich kann mit euch das Ungefähre dieser Lage bedrohlich finden, aber wir haben Wege und Holzwege da hindurch. Es ist absehbar, auch wenn Leitende jetzt schlingern.

Schwerer wiegt vielleicht, wie die kleinen und mittleren Freiberuflichen dastehen nach all dem. Ob auch sie bald gefressen werden von den weltumspannenden Blackfriday-Konzernen, die keine Steuern zahlen. Die Regierende so vor sich hertreiben, dass die mit chinesischer Diktatur flirten. Da hab ich echte Sorge. Aber die hatte ich auch vorher schon.
Vermutlich gibt es auch Gründe wach zu sein für die Handelsbeziehungen und den Umgang mit Tieren, denn sonst blühen uns vielleicht demnächst wirklich gruselige Keime. Dieser geht ja noch.

In alldem: Ich weiß es nicht. Ich weiß es auch nicht besser. Ich halte die Zeiten meiner Eltern an meine und unsere. Es entspannt mich dies zu tun. Seltsam. Meins tritt in einen anderen Horizont: das Fette der letzten Jahre ist nicht allein der Maßstab. Es gibt keine Sicherheit, für gar nichts. Außer man liebt. Dieser Zustand ist objektiv der unsicherste, aber der einzige, der mich und dich am Leben hält.

‚Ich sehe eine andere Welt‘, sagt im Traum der Gottessohn den hellsichtig Verrückten, und sie werden verstehen – ‚ich sehe, wie innig ihr euch jetzt schon an den Händen haltet mitten im Berührverbot. Ich sehe, wie euer Fett abschmilzt. Ihr liegt auf Balkonen und in Hinterhöfen in den Armen eurer Kinder und Freundinnen und weint vor Glück, dass ihr euch habt. Ihr werdet gekämpft haben ohne Lösung, aber auch ohne Niederlage - für ein manierliches Nebeneinander. Das wird genügen. Eure Erregung wird wieder den Armen zukommen statt  dem Netz-Klatsch und den Ängstlichen. Es wird euch reichen, wenn ein paar anständige Hanseln das Land leidlich verwalten ohne es auszurauben. Und ihr werdet mich in diesem Moment kurz am Horizont heraufkommen sehen. Das nennt gern Advent. Aber das Beste kommt erst noch …‘