Hölderlin

Hölderlin

Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch. / Im Finstern wohnen / Die Adler und furchtlos gehn / Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg / Auf leichtgebaueten Brücken. / Drum, da gehäuft sind rings / Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten / Nah wohnen, ermattend auf / Getrenntesten Bergen, / So gib unschuldig Wasser, / O Fittige gib uns, treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren.

Ja, es stimmt, was der Bruder sagte, als er im Krankenhaus lag und wir uns Geschichten vorlasen, wenn wir nicht gerade von früher redeten, Fußball schauten oder heimlich draußen rauchten: Der Hölderlin ist ein echt cooler Rapper. Dabei ist das nur die erste von fünfzehn grandiosen Strophen der Patmos-Hymne. Der Bruder mochte Hölderlins Adler-Zitate. Er war ja selbst wie einer. Er kannte die Finsternis, die Alpen und Abgründe, die Gipfel der Zeit. Und leichtgebaute Brücken. Er ging hinüber. - Doch er kehrte nicht wieder zurück.

Zwölf Jahre ist das jetzt her. Zwölf Jahre "auf getrenntesten Bergen".

Nun lebt der jüngste Bruder auch nicht mehr. Und der, der ihm das antat, sitzt fratzig in Berlin. Jede Woche sehe ich sein Gesicht. Blick ihm finster in die Augen. Mich kriegt der nicht klein, mich nicht. Den lass ich nicht an mich heran. Ich hab mal gehört, dass das irgendwas mit Vergebung zu tun hat, verstanden habe ich das zwar nicht, aber es hilft mir. Kein: Wie-du-mir-so-ich-dir. Sondern ein: Du-kannst-mir-nichts. Und er? - Schaut weg.

Nah ist und schwer zu fassen der Gott.

Es ist sinnlos zu fragen, warum wir nur noch zu zweit sind und nicht mehr vier. Die Theodizee-Frage stellt sich mir schon lang nicht mehr. Denn was wäre das für ein Gott? So ist er nicht.

Doch dann, auf einmal, zaubert er. Lockt wie aus dem Nichts ein Gebet in mein Leben. Ein Gebet für jemanden, der stirbt. Und ich weiß, wenn ich an der Reihe bin, möchte ich genau das hören:

Der Herr segne dich und erwarte dich am Ufer des Lebens im Licht - jetzt, da der Tod alles Irdischen an deine Tür klopft und dich herausruft aus dem Land, das dich ernährt, aus dem Kreis der Menschen, mit denen du gelebt hast.

Er mache dir den Abschied leicht, und schicke dir Seinen Engel entgegen, der dich begleitet durch das unbekannte Tor des Todes und dich in das verheißene Land führt, wo die Sonne nicht mehr untergeht.

Er erlöse dich von der Angst, ins Leere zu fallen - und schenke dir die Freude, dass du Ihn schaust, der all deine Schuld vergibt, und deine Wunden heilt. Die Wunden der Angst und nicht erfahrene Liebe, die Wunden des Schmerzes und des nicht Gelungenen.

Er zeige dir deine wahre Heimat - und lasse dich glücklich sein in Seinem Himmel - Ihm nahe und denen all, die vor dir gelebt haben. Das gewähre dir der Gott des Lebens, der dem Tod die Macht genommen und sich jetzt freut auf dich: der Vater, der Sohn und der Heilige Geist. Amen.

Ja! Glücklich sein in seinem Himmel, ihm nahe und all denen, die vor mir gelebt haben. Begleitet sein von seinem Engel. - Genau das.

Und Hölderlin, der alte Fuchs? Hat auch dafür einen Satz parat: Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.