Heiter auf's Ganze schauen

Heiter auf's Ganze schauen
Den ganzen Horizont sehen, damit die eigenen Proportionen wieder stimmen

Ich mag denen, die jetzt entscheiden, Fehler zugestehen. Die Sichtweite ist im Moment so klein, so klein. Aber war sie je größer?
Ich erinnere mich daran, wie viele Irrtümer nötig waren, damit ich lebe.
Die Milliarden Versuche des Kosmos aus einem Gas- und Gesteinsklumpen etwas Bewohnbares zu formen. Die Myriaden von Amphibien, die versuchten das Leben aus dem Wasser ans Land zu tragen und verreckt sind. Bis sie es Zehntausende Sommer später besser konnten. Der Affe, der den Ast verfehlte und zu Tode stürzte. Generationen brauchte es, bis seine Rasse mehr Sprungkraft entwickelte. Wie viele Urzeit-Jäger-Nomaden einfach verhungert sind - bis sie entdeckten, dass Pflanzen auch etwas können. Und blieben. Wie sie vermutlich erst da entdeckten, dass Kinder vom Sex abstammen. Zuhause bleiben kann auch Spaß machen. Wie viele Versuche und Jahrtausende nötig waren, um in einem Gefäß etwas garzukochen - die Grundlage unserer Zivilisation. Milliarden Irrtümer und immer neue Versuche. Myriaden von Toten, die sich die Natur leistet um voranzukommen. Allein der Versuch die östliche Welt in ein blitzschnell entwickeltes Lebens-System zu pressen - wer zählt die Opfer, die Gulags der Willkür? Die kolonialen Versuche, ein Grundeinkommen für reiche Europäer zu erwirtschaften. Der lukrative Handel mit China, der schon im Mittelalter die Pest von dort einschleppte. Irrtümer, Kraftakte mit fatalen Folgen, Fahren auf Sicht.
Wie unwahrscheinlich allein, dass es mich gibt. Mein Vater an der Ostfront, meine Mutter Vollwaise. Ihre Eltern schon am seidenen Faden. Überlebende auf einem Haufen von Leichen. Weil sie einen Moment lang geschickter waren als andere. Mehr war es nicht.

Und nun gibt es mich, mehrfach am Tod vorbeigeschrammt  – seit 75 Jahren in europäischem Frieden. Der so lang währt wie nie zuvor. Und ich mitten drin. Das ist erdgeschichtlich und kosmisch alles dermaßen unwahrscheinlich - zehn hoch minus 12 die Chance, dass es mich gibt.

Und ich errege mich über eine fehlerhafte Abrechnung, über Sterblichkeit bei alten Leuten, über eine ungerechte Behandlung  - in einem Staat, in dem man kaum durchs Rost fallen kann.

Vor 80 Jahren lehrte die katholische Kirche, das gläubige Leben bestehe darin, Gott nichts streitig zu machen, Menschen nicht zu verletzen und sich im Ganzen auf den Tod vorzubereiten. Von heute aus undenkbar anspruchslos bzgl. des diesseitigen Daseins. Wer wollte jetzt nach solcher Doktrin leben? Aber wir werden es wieder lernen müssen: Ablassen von fraglicher Erfüllung, sterben lernen und es heiter genug sein lassen. Und die Proportionen immer mal anschauen, in denen wir auf diesem Planeten inmitten eines kleinen Sonnensystems inmitten von Milchstraßen und unfasslichen Entfernungen, gebacken aus Sternenstaub, Döner essen und uns lieben.