Wieder "normaler" Gottesdienst "wie früher"? Ist das erstrebenswert?

Wieder "normaler" Gottesdienst "wie früher"? Ist das erstrebenswert?
Wie oft habe ich erlebt, dass kein Gesang mehr funktionierte, weil die Leute sowieso in freiwilliger 'Quarantäne' weit auseinander saßen. Wie oft hat man sich bei seiner Glaubensausübung vom Anblick anderer eher gestört gefühlt? Wo ein jedes Einzelwesen in seiner kleinen Glaubens-Box fein aufgereiht saß. Vielleicht mal etwas grundsätzlicher darüber nachdenken - jetzt, wo eh vieles nicht mehr gilt?

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Wieder "normaler" Gottesdienst "wie früher"?
Ist das erstrebenswert?

War es vor dem viralen Abstand am Sonntag so prinzipiell anders? Was heißt 'normal'?
Wie oft habe ich erlebt, dass kein Gesang mehr funktionierte, weil die Leute sowieso in freiwilliger 'Quarantäne' weit auseinander saßen. Wie oft hat man sich bei seiner Glaubensausübung vom Anblick anderer eher gestört gefühlt? Wo ein jedes Einzelwesen in seiner kleinen Glaubens-Box fein aufgereiht saß. Wie einseitig war die Kommunikation und ähnelte einem Video-Gottesdienst, wo nur ein 'Talking-Head' spricht, egal wie viele da sind und wer? Wie viele Leute haben wir längst vergrault, weil es so war wie es war? Die sieht man ja nicht. Man sieht nur die paar Unentwegten. Und man sieht die eigene Legitimation gefährdet als Prediger*in.

Ist es wirklich ausgemacht, dass dieser Zustand überall der erstrebenswerte ist?

Was wären Alternativen?
Wenn schon Pause, dann richtig und zum Nachdenken.
Wie möchten wir nächstes Jahr zusammen den Sonntags-GD feiern? Was soll passieren mit dem Raum, dem Gesang, dem Reden und Hören, dem Mitwirken, dem öff. Gebet?
Das ist doch die ideale Zeit, um sich darüber mal zu besprechen, oder?

 

  1. Gedanken zur Lage
    a. Vom Paradox, öffentlich  fromm zu sein

Ein Mensch leitet den Gottesdienst. Man sieht ihm dabei zu. Er faltet die Hände, er sagt wichtige Dinge, segnet, betet vor allen. Das tut er stellvertretend für die, die in der Kirche sitzen. Auch sein Einzug in die Kirche z.B.  ist ein darstellendes ernstes Spiel: er nähert sich dem Heiligen. Er ist von uns abgeordnet und bezahlt, dass er das hauptberuflich tun kann. So können alle Sitzenden im Geist mitvollziehen, was eine anleitet. Man sieht einem Menschen dabei zu, wie er ausdrücklich fromm ist, und findet das erbaulich. Denn so etwas ist in Nordeuropa eher selten: da ist Religion Privatsache und gehört ins Kämmerlein. Stellt man z.B. die Bänke so auf, dass die Menschen einander sehen können, dann gibt es Protest: man werde abgelenkt durch die  anderen. Wovon abgelenkt? Das ist nicht ganz einsichtig, denn die Frömmigkeit der Pastorin schaut man ja auch gern an –  warum sich also nicht inspirieren lassen von anderen, die innig beten oder schmunzeln?

Man lässt sich nicht gern beim Frommsein zuschauen. Das soll jemand tun, der es professionell kann und irgendwie abgehärtet ist gegen Blicke. Dies ist vielleicht einer der Hauptgründe, warum es so schwer ist, Menschen für Beteiligung im Gottesdienst zu gewinnen. Denn viele andere sitzen dann in den Bänken und gucken – und wer sich exponiert, steht im Scheinwerferlicht.

Zusätzlich wirken oft archaische und wenig reflektierte Regungen, die bremsend auf Initiativen wirken:

  • Die priesterliche Figur im Talar ist von besonderer Art – mit weniger, das heißt mit einem ehrenamtlichen Menschen, mag man sich oft nicht zufrieden geben.
  • Im Kirchraum gelten scheinbar andere Regeln als in der Demokratie: Hier ordnet man sich unter. Denn ‚Gott fordert Gehorsam‘.
  • Im Gottesdienst gilt scheinbar ‚alte Moral‘: Keuschheit, Schweigsamkeit, Fügsamkeit, Sündlosigkeit.
  • In der Kirche gilt noch die Monarchie: Eine Spitzenbeamtin vorn, mit der man nicht redet – in den Reihen von vorn nach hinten abnehmende Bedeutungs-Intensität.

b. Neues Autoritätsverständnis

Die Lufthoheit über die rituellen Formen im Christentum gehört nicht mehr allein den hauptamtlich Frommen, sondern inzwischen vielen anderen auch. Das ist für Pastorinnen und Pastoren oft schwer verdaulich. Sogar die Fragen des Religiösen überhaupt gehören nicht mehr allein den großen Konfessionen. Menschen machen sich ihre eigenen Gedanken, jedenfalls in den aufgeklärten westlichen Regionen.

Das geht einher mit einem kritischen Verständnis  von Autorität. Wer heute gehört werden will, muss seine eigene Wirkung viel mehr selber erweisen. Früher war ein Pfarrer anerkannt allein wegen seines Standes im Rahmen der Kirche. Weil Zugehörigkeit zu einem ‚Stand‘ überhaupt mehr bedeutete. Das war eine andere Art von Autorität – eher äußerlich. Jetzt muss Kirche, jetzt müssen kirchliche Leute zeigen, was sie können, sonst wendet man sich einfach ab.

Auch die Gegenbewegung gibt es:

Andere müssen unter der Woche so viel selber entscheiden, dass sie froh sind, wenn sie mal sonntags eine Stunde abhängen können und nichts entscheiden oder  tun müssen. Aber die suchen oft einfachere Formen der Meditation auf: Taize-Gebete, Yoga-Kurse usw.. Oder man wendet sich dem Fundamentalismus zu, da werden einem alle Entscheidungen abgenommen.

c. ‚Betreutes Wohnen‘, also flächendeckende ‚Versorgung’

Die flächendeckende ‚Versorgung‘ mit Gottesdienst an jedem Sonntag in jeder Kirche bricht allmählich zusammen. Sie ist nicht mehr zu halten. Die geübt sind in der klassischen Liturgie und sie auch so haben wollen, werden weniger. Das Interesse im Land an erlebbarer und wirksamer Spiritualität wächst. Man vermutet sie aber nicht unbedingt bei der Kirche.

Welche Leitung macht sich diese Gesamtlage zu eigen und beginnt zu handeln?

  1. Welche Formen von Gottesdienst erlauben welche Art von Leitung und Beteiligung
    a. Der Gottesdienst nach Agende

Er hat seinen Ursprung in der katholischen Messform und ist das wöchentliche  Training für geübte Turniertänzer. Er entstammt dem jüdischen Kult, kehrte ein unter die ersten Christen, gewann Großformat als Staatsreligion, wurde in Klöstern vertieft und bis ins Kleinste gepflegt. Dort, wo man täglich formell betet und am Sonntag den Haupt-Gottesdienst begeht. Jeder versteht die lateinischen und griechischen Chiffren, die geheimnisvollen Anspielungen, die Dramaturgie der Abfolge aus Öffnung zu Beginn, Einfall des Anderen im Wort, Kommunion im Mahl und Geleit im Segen. Wenige leiten das, eigentlich leitet die Tradition. Es geht nicht ums angeregte Erleben oder um Mitwirkung, sondern um stilvolles Wiederkäuen guter alter Geheimnisse. Deshalb kann man diese Form nicht ohne Ende strapazieren. Sie will weder Event sein, noch missionieren, sondern ist stete Übung im Geheimnis.

Die Formen der Mitwirkung sind entsprechend begrenzt:

Ehrenamtliche Menschen können Teile im Eröffnungsbereich ausgestalten (Psalm, Kyrie, Gloria), sie können Lesungen neu formen und auch predigen, sie können beten. Mehr Spielraum gibt diese Art Gottesdienst nicht her, denn alles ist von langer Hand geformt und nicht einfach wandelbar. Aber Mehrstimmigkeit tut dieser Form gut.

b. Gottesdienst frei von agendarischer Vorgabe 

Im deutschsprachigen Raum gibt es geschätzt 60.000 alternative Gottesdienst-Formen an allen Wochentagen. Fast jede Region hat so etwas entwickelt. Die Kirchenämter der Volkskirche kommen kaum mit dem Wahrnehmen nach, geschweige denn mit Prüfungen, ob dort alles auch kirchengemäß zugeht.

Hier darf jeder etwas erfinden, man kann in der Gruppe zusammen entwickeln, was noch nicht da war. Eine Nähe zur klassischen Agende wird meist vermieden. Die Abfolgen ähneln ihr im Ergebnis aber in den o.g. Grundvollzügen oft.

Niemand hat das Gefühl, er wisse zu wenig oder benehme sich  falsch in der Kirche. Man steigt einfach ganz neu ein in den alten kirchlichen Raum, öfter aber auch das nicht: Man geht in die örtliche Festhalle oder Schule, damit möglichst wenig vermeintlicher Ballast am neuen Projekt hängt.

Planungs-Teams von 30-60 Menschen gestalten mit, es gibt technischen Aufwand, moderne Bands, Begrüßungskommitees, Umfragen und gemeinsames Essen nach dem Gottesdienst, Hauskreise in der Folge – all das hier nur als Andeutung.

Hier leitet eine Projektgruppe, oft zusammen mit dem regionalen Klerus, aber sie fühlt sich allein dem Erfolg dieses Projekts verantwortlich und will kirchliche Verordnungen und Maßstäbe für sich weniger gelten lassen. So etwas kommt einer Neugründung gleich und hat den Reiz des Aufbruchs. Hier nimmt sich eine eher ungezügelte Energie selber einen Spielraum im Christlichen, der nicht so besetzt ist wie der Gottesdienst am Sonntag. Denn dort müssen etliche Instanzen gefragt und beteiligt werden, bevor man überhaupt zum Zug kommt mit seinen Ideen. Sie merken, da ist Musik drin.

  1. Welche Leitungs-Instanzen können Gottesdienst lenken?
  • Gottesdienst-Ausschüsse sind nett, vertiefen das eigene liturgische Wissen, sind aber nach außen meist wirkungslos. Sie basteln ein wenig an der vorhandenen Liturgie. Aber es braucht ganz andere Initiativen, wenn man Gottesdienst beleben will.
  • Die Gemeinde-Leitung hat Verantwortung für die Gestaltung von  Gottesdienst, aber sie weiß oft nicht, was es alles gibt, was woanders gelingt, was kirchenrechtlich geht und was nicht. Entsprechend vorsichtig reagiert sie meist auf Vorschläge. Um diese Aufgabe gut wahrnehmen zu können, braucht sie gute Fortbildung. Das macht Arbeit und es interessiert nie alle gleichermaßen.
    Meist betraut einen Gottesdienst-Ausschuss, sich stellvertretend zu informieren. Denn besonders strategische Fragen des Gottesdienstes (wie oft, wo, wann?), Alternativen usw. können nicht in 20 min zwischen anderen Sitzungspunkten bearbeitet werden.
  • Am besten funktioniert eine Projektgruppe Gottesdienst. Sie hat Mitglieder aus Gemeinde-Leitungen, aber auch ganz andere Leute. Halb verfaßt, halb wild. Die Verfaßten dürfen nicht zu engwinklig sein. Das garantiert eine gewisse Weite. Sie kann auch überregional zusammengesetzt, das heißt von mehreren Orten beauftragt sein, Gottesdienst weiterzuentwickeln: Sie trifft sich monatlich auf Dauer, holt sich erstmal Fortbildung, schaut nach Handlungsfeldern, plant z.B. exemplarisch Gottesdienste, mit denen sie durch die Region zieht. Oder sie bespielt leere Kirchen, macht Vorschläge, aber handelt exemplarisch auch selbst oder oder ….
  • Prädikanten und Lektoren sind meist darauf angesetzt, Lücken im vorhandenen Pfarr-Versorgungssystem zu schließen. Das funktioniert leidlich, aber dieser Stand könnte als Gruppe mehr bewirken, wenn es um Renovierung der Gottesdienst–Landschaft geht. Als Einzelne bestätigen sie das vorfindliche System. Das befindet sich aber im Sinkflug.
  • Pastorinnen und Pastoren sind dringend gewiesen, ihren Horizont in Sachen Gottesdienst zu erweitern. Wenn sie freie Sonntage haben sich auch andere Modelle anzusehen  bzw. zu Fortbildungen zu gehen, kommen sie auf weiterführende Ideen. Sie sind weiter die Instanz, die am meisten bezahlte Zeit hat, sich mit dem Thema zu beschäftigen. Sie können vieles torpedieren und fördern.

Weiterführende Links

Anleitung in Lektionen für Gruppen, die im Gottesdienst auf Dauer mitwirken wollen:

Gottesdienst verstehen und selbst gestalten, Thomas Hirsch-Hüffell

vergriffen, Manuskript hier:

http://gottesdienstinstitut-nordkirche.de/wp-content/uploads/2015/03/GS.pdf

Gottesdienst- Elemente zum Mitmachen und Gottesdienst-Didaktik

unter http://gottesdienstinstitut-nordkirche.de/material/

Weitere Arbeitsstellen für Gottesdienst

  • Gottesdienst Institut Nürnberg mit viel Bildmaterial für den Gottesdienst
  • Michaeliskloster Hildesheim mit Schwerpunkt Kirchenmusik und Gottesdienst
  • Zentrum Verkündigung Frankfurt mit Kunst und Kirche, Gottesdienst-Gestaltung und Veröffentlichungen

 

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Fragen für die Gestaltung von Gottesdienst  im KGR

  1. Gibt es in Ihrer Umgebung ernsthaftes Interesse bei Hauptamtlichen, sich inhaltlich von Ehrenamtlichen im Gottesdienst-Leben  begleiten zu lassen? Mit wem ginge es am ehesten?
  1. Wenn Sie eine eigene Idee für die Gestaltung von Gottesdienst haben, mit wem würden Sie das am liebsten realisieren? Nehmen Sie beim Finden der Personen keine Rücksicht auf Zuständigkeiten in ihrem Bereich. Es können auch ganz kirchenferne Leute sein.
  1. Welche Gottesdienst-Frequenz würde Ihnen selbst am Sonntag genügen –  wöchentlich, zweiwöchentlich, monatlich, seltener? Vergleichen Sie Ihre Wahl mit der Realität um sie herum.
  1. Unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielen wären Sie bereit, zwei Jahre lang in einer monatlichen Projekt-Gruppe Gottesdienst mitzuarbeiten?