Über die Sehnsucht

Über die Sehnsucht

Ich verlauf mich ständig. Gerade erst wieder. Da schickte mir ein Freund eine Nachricht, über die wir uns beide maßlos aufregten. Ich war auf dem Heimweg, in München, auf einer superleichten Strecke, einmal U-Bahn, einmal Tram, mehr nicht. Und landete keine-Ahnung-wo. Steig um, tipp weiter in mein Smartphone, hör dabei den Paulus, gerate prompt in die nächste falsche Bahn, eh klar, na, und so weiter. Als ich wieder zu Hause war, musste ich schmunzeln. Fritz, mein Bruder, hatte auch keinen Orientierungssinn. Einmal wollten wir uns verabreden, er in Freiburg, ich in München, und er fing an, mir den Weg zu erklären, und ich schrieb mit. Nie im Leben hätten wir uns gefunden, wenn nicht andere übernommen hätten. Ach ja …

Egal.

Heute geht’s mir um ein anderes Herumirren. Um das Suchen und das Sehnen. Um die Sehnsucht, die ein Leben lang anhält. Egal, wo man ist. Egal, was ist. Das Sehnen danach, angenommen zu werden. Die Sucht danach, anzukommen.

Wir sind früher viel umgezogen. Als Kind dachte ich, alle Menschen auf der Welt ziehen alle fünf Jahre um, weil wir es taten. Als meine erste Schulfreundin in der fünften Klasse fortging, war ich nicht traurig. Denn wir blieben ja selbst nie an einem Ort.

Auch mein erwachsenes Leben war erstaunlich rastlos: Bonn, Hamburg, München, Lüneburg, Bonn, Berlin, München.

Aber das ist nur das Äußere.

Im Innern sah es nicht besser aus.

Als junger Mensch will man dazugehören. Zu einer Gruppe gehören. Man definiert sich über andere. Über Leute, die man toll findet. Man will auch so sein. Und nicht abseitsstehen.

Bei mir hat das nie funktioniert.

Mein ganzes Leben war ein Ausprobieren. Wie ein Leben auf Probe.

Und Gott?

Mit dem war es auch nicht anders. Schon früh suchte ich Antworten. Verschlang mit dreizehn Siddhartha von Hermann Hesse. Saß am Rhein, denn ein Fluss muss sein bei dem Buch. Mit vierzehn schloss ich mich der Christian Science an, weil ich Leute kannte, die da mitmachten. Mittwochabendversammlungen, Sonntagsschule, nationale und internationale Jugendtreffen mit Beten und Gitarre und Singen und Lachen und Liebe.

Aber Mitglied wurde ich nie.

Irgendwann suchte ich nur noch hier und da. Und lebte mein rastloses Leben. Von Stadt zu Stadt, von Aufgabe zu Aufgabe.

Und - wurde gefunden.

Es geschah im Gottesdienst, während einer Predigt. Als es um „Epiphanie, das Zum-Vorschein-Kommen Gottes in Jesus Christus und in seinen oft Not leidenden Menschengeschwistern“ ging, wie der Priester sagte. Da hörte ich diese Worte, und es war, als seien sie allesamt an mich gerichtet:

„Es wird gewiss so sein, dass wir uns heute von solchen, die lange schon auf dem Weg sind - auf den Wegen des Denkens und Fühlens, auf Lebens-Such-Wegen, Fluchtwegen -, an der Hand nehmen und auf das Zum-Vorschein-Kommen Gottes hinweisen lassen müssen. Wenn wir sie nicht aufnehmen, gehen sie vorüber - und finden, was wir schon nicht mehr gesucht haben; finden Gottesspuren, wo wir nicht mehr hingeschaut haben. Unsere Kirche weiß nicht schon alles über Gott und den Menschen; weiß vielleicht erschütternd wenig über den Menschen. Und es gibt die Weisen noch, die gute Wege wissen, das zu ändern; Weise, die Wege mit Gott kennen, abseits der kirchlich selbstverständlichen und moralisch erlaubten. Wenn es unter uns doch etwas mehr Neugier gäbe, mitzukriegen, was die bewegt!“

Alles, was ich hörte, traf auf mich zu. Solange ich denken kann, hatte ich mich auf „Lebens-Such-Wegen“ befunden, mal mehr, mal weniger, bin ich auf „Fluchtwegen“ herumgeirrt. Und ganz zweifellos gehöre ich zu den Menschen, die Wege „abseits der kirchlich selbstverständlichen und moralisch erlaubten“ gehen. Darum bin ich ja nie angekommen.

Und dann das.

Auf einmal war alles umgekehrt, musste nicht ich mich anderen anschließen, musste ich mich nicht an anderen orientieren, um meinen Weg zu finden. Auf einmal war jemand neugierig auf mich, wollte wissen, was mich bewegt: die Kirche. - Die Kirche interessierte sich für mich.

Ausgerechnet.

Ich weiß nicht, ob ich Gottesspuren gefunden habe, wo die Kirche nicht mehr hinschaut, vielleicht stimmt das sogar. Aber ich weiß, dass ich angekommen bin. Und angenommen.

Mein Sehnen ist nicht zu Ende, und auch mein Suchen nicht. Denn noch ahne ich mehr, als ich weiß. Und manches verwirrt mich noch.

Aber die Sucht ist vorbei.

Endlich.