Mit Nogger Choc dem Ritzen auf der Spur!

Mit Nogger Choc dem Ritzen auf der Spur!
Zu meinem Alltag gehören Konfirmand*innen, die sich ihre Arme ritzen und dies dann im Anschluss mir und anderen mit einem Foto über die sozialen Netzwerke mitteilen, um ...

... ja warum eigentlich?!

Ich habe mich viel mit den Jugendlichen übers Ritzen unterhalten. Ich wollte es verstehen, denn ich dachte, wenn ich dem auf die Schliche komme, könnte ich helfen. Es würde sich lohnen, ich sitze schließlich an der Quelle. Viele junge Menschen, sehr viele, ritzen sich. Ich habe sie gebeten, Ihre Verbände kurz für mich zu öffnen, damit ich mir die Wunden angucken kann, wie das überhaupt aussieht, wenn das frisch ist. In manchen Fällen mussten die Wunden sogar genäht werden, aber auch das war kein Grund, es zu lassen. Auch wenn ich alle Fragen stellen durfte und ich offene, ehrliche und rührende Gespräche geführt habe - ich habe es nicht verstanden. Ich konnte dem Geheimnis nicht auf die Schliche kommen. Und das größte Rätsel bleibt mir auch: Warum gehe ich damit dann auch noch an die Öffentlichkeit und stelle ein Foto meiner Selbstverletzung ins Netz?

Ich habe es irgendwann einfach hingenommen, wurde ruhiger, habe gemerkt, dass keiner daran stirbt und gelesen, dass die Selbstverletzung meistens im Erwachsenenalter wieder aufhört, dass nur Narben bleiben. Naja und die meisten Kids sind so schlau, die ritzen nur an einem Arm, um noch einen intakten z.B. beim Blutabnehmen vorzeigen zu können.

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Am Wochenende war ich in der Gegend meiner alten Kirchengemeinde, dorthin hatte die Kirche meine Frau und mich gesandt. Wir kannten die Gegend nicht, aber wir kannten die Regeln: Die erste Pfarrstelle suchst du dir nicht aus, die bekommst du zugewiesen! Ich, mitten in Berlin aufgewachsen, wurde in ein 1000-Seelen Dorf gesandt. Widersetzen wollten wir uns nicht, denn uns war schon klar, auch hier leben Menschen, die eine*n Pastor*in benötigen.  Wir wollten das Spiel mitspielen, das uns hier aufgezwungen wird, zum einen, um uns später nicht vorwerfen lassen zu können, wir pickten uns nur die Rosinen raus und zum anderen trieb uns auch unsere Gottesfurcht an. Wer sagt denn, dass es nur der Wille der Personaler*innen unserer Kirche war.

Also zogen wir aus unserer 27m2 großen Ein-Zimmer-Mietwohnung in Berlin aufs Dorf. Dort erwartete uns eine wunderschönes, liebevoll und hochwertig saniertes Pfarrhaus, ausgestattet mit Fußbodenheizung, neuer Küche, modernem Badezimmer, Echtholzparkett und mit erhaltenen Fachwerkelementen - ein wahrer Wohnungstraum. On top ein großer Garten zum Bewirtschaften und sogar mit Kartoffelhorden im Keller. Und dennoch haben wir dieses zu Hause nicht ertragen. Die Räume waren so überdimensioniert, dass unsere Möbel sich darin verloren. Gefühlt lebten wir in einer leeren Wohnung, allein das Wohnzimmer war doppelt so groß, wie unsere alte Wohnung insgesamt. Wir hatten auch kein Geld für neue Möbel, wir mussten ja einen Kredit aufnehmen, brauchten schließlich sofort zwei Autos, um auch unsere anderen Dörfer erreichen und versorgen zu können.

Wir haben unsere Wohnung nicht mehr ertragen. Oft in dieser Zeit, setzten wir uns abends ins Auto und fuhren einfach herum. Die Wohnung war nicht unser Zuhause und im Auto fühlten wir uns noch am ehesten angekommen. Zumindest solange wir nicht anhielten und uns dadurch einredeten, wir seien unabhängig und könnten jederzeit nach Berlin zu unserer Familie fahren. Also fuhren wir stundenlang einfach herum. Über Landstraßen und durch Dörfer. Im Jahr 2019 sollte man unnötiges Herumfahren mit dem Auto vielleicht nicht mehr zugeben, aber es war so. Wir waren so. Öko-Säue, Umwelt-Sünderinnen, geldverschwenderisch... 

... und echte Körper-Verletzerinnen. Denn unsere Reisen hatten kein eigentliches Ziel, abgesehen davon, nicht in unsere Wohnung zu kommen, bevor wir nicht so müde wären, dass wir einfach einschlafen würden. Unser uneigentliches Ziel war aber immer eine der Tankstellen in der Region. Und dort die Eistruhe. Ein Nogger-Choc begleitete uns auf jeder unserer Touren, die uns schon damals völlig sinnlos erschienen. Das Papier und den Stiel warfen wir nach dem Verzehr bei voller Fahrt einfach aus dem Fenster in die Natur.

Erst am Wochenende, als wir wieder durch diese Gegend fahren mussten (in der wir seit drei Jahren nicht mehr wohnen) und den Müll (hoffentlich anderer Leute) im Graben gesehen habe, erst da begriff ich, wie gut es sich für den Moment anfühlen kann, Dinge die man nicht erträgt, zu zerstören.