Emo-Dokus

Emo-Dokus
Müssen Fernseh-Dokumentationen emotionalisieren, gleich von der ersten Sekunde an? Die neue WDR-Affäre wirft die Frage nach ausgehöhlten Genre-Begriffen auf.

Es gab schon wieder einen Skandal um Medieninhalte. Er ist vermutlich klar kleiner als der um Claas Relotius und den "Spiegel". Um drei Filme der WDR-Reihe "Menschen hautnah" kreiste er. Vor allem in "Ehe aus Vernunft - Geht es wirklich ohne Liebe?" wurde

"die echte Beziehungsgeschichte des Paares Sascha und Tanja in unzulässiger Weise zugespitzt ... Zwar handelt es sich um eine reale Beziehung, die Gefühlslage wurde aber verzerrt dargestellt. Der Film wird nun aus der Mediathek entfernt. Ellen Ehni, WDR-Chefredakteurin Fernsehen: 'Das Vertrauensverhältnis zur Autorin ist zerstört. Deshalb werden wir sie ab sofort nicht mehr beauftragen.' Der WDR wird zudem seine Maßnahmen zur Qualitätssicherung für die Sendereihe 'Menschen hautnah' weiter ausbauen",

teilte der WDR mit, nachdem die Mehrfachverwertung eines "hautnah" gefilmten Paars in unterschiedlichen Kontexten auf Twitter aufgedeckt worden war (Zusammenschau wie immer im Altpapier). "SZ" und "FAZ" sprachen mit der Autorin der Filme, die ihren Namen "aus Schutz vor Anfeindungen nicht namentlich genannt werden möchte".

Aufschlussreich sind zwei Radio-Interviews mit der genannten WDR-Chefredakteurin. Das, das Deutschlandfunks "@mediasres" führte, ist zupackender. In dem, das sie zuvor der WDR-Sendung "Töne, Texte, Bilder" gab, sagt Ellen Ehni unter anderem, dass künftig verschärftes Factchecking der Redaktion vorgesehen ist, aber "an die Situation von emotionalen Geschichten" angepasst werden soll. Denn: "Bei uns gibt es emotionale echte Geschichten."

Dieser Schlüsselbegriff "Emotionalität" kam hier im WDR-Zusammenhang, aber unter entgegengesetzten Vorzeichen schon einmal vor. In der Kolumne "Suchende Dokumentarfilme? Muss man suchen ..." ging es um den Dokumentarfilmer Dietmar Post und auch seine Erfahrungen mit dem WDR, der eine vereinbarte Fernsehversion seines neuen Films nicht hatte abnehmen wollen. Post hatte gesagt:

"'Es war nicht der inzwischen gewohnte reine Empörungsfilm um geraubte Babys oder der schöne Feelgoodfilm', dem Sender habe 'Emotionalität' gefehlt. Sein Film sei 'weder reißerisch, noch 'embedded', drückt nicht auf die Tränendrüse, sondern erzählt so nüchtern wie möglich'".

Der Kern des Dokumentarischen

Emotionalität ist im wahren Leben oft was Schönes, wenn auch nicht immer, es gibt ja unterschiedliche Emotionen. In Medien gilt das sicher ebenfalls – selbst wenn die Frage, ob all die Emotionen, die die Medienfülle inzwischen bietet (und erst recht: all die Empathie, die die laufend neu reinkommenden Nachrichten aus aller Welt erfordern oder erfordern würden) nicht zu viel für die Menschen zu werden drohen, zu den ganz großen philosophischen Fragen gehört. Keine Angst: Eine Antwort suche ich hier nicht.

Eine eingrenzbarere Frage ist, wieviel Emotionalität dokumentarisches Fernsehen benötigt und verträgt. Ursprünglich stand der Begriff vor allem fiktionalen Spielfilmen und Romanen gegenüber, also Kunst- und Unterhaltungsformen, die eher auf Inszenierung und Imagination basieren. Wobei klar ist, dass auch sie "auf wahren Begebenheiten beruhen" können und auch Dokumentaristen pausenlos künstlerische Entscheidungen treffen, angefangen damit, worauf sie in welchem Winkel die Kamera halten (und worauf demzufolge nicht). Zum Kern des Dokumentarischen hat Emotionalität aber lange Zeit nicht gehört.

Ich selbst neige bei Dokus im öffentlich-rechtlichen Fernsehen längst dazu, Beiträge weniger ernst zu nehmen, sobald die Untermalungsmusik anschwillt. Wahrscheinlich, weil ich besonders von dokumentarischen Filmen erwarte, dass sie durch ihre Bilder, Aussagen und Themen interessieren bis überzeugen. Klar passt an vielen Stellen Musik gut dazu, aber besser, wenn sie nicht pausenlos eingesetzt wird.

Ertönt sie von Anfang an, wie in sämtlichen "Menschen hautnah"-Folgen (auch noch nach dem aufwändig montierten, vor allem von einem gefühlvollen Lied getragenen Reihen-Vorspann), scheint mir unwillkürlich: Sie wird eingesetzt, weil die Macher den Bildern und Aussagen alleine nicht vertrauen. Was natürlich eine Geschmacksfrage ist oder nur meine Meinung und vermutlich keine Mehrheitsmeinung der Zuschauer des linearen Fernsehens. "37 Grad" zum Beispiel ist seit Jahrzehnten eine der erfolgreichsten deutschen Dokumentationssendungen (und wird mit von der ZDF-Redaktion "Kirche und Leben, evangelisch" verantwortet). Auch die Reihe arbeitet auch mit üppigem Musikeinsatz und zeigt Menschen "hautnah". Schön, dass es solche Hauptsender-Sendungen auf noch nicht nächtlichen Sendeplätzen gibt, auch wenn sie mir nicht zusagen. Zu den Vorzügen der Vielfalt gehört ja, dass jeder individuell Interesssantes im Überfluss finden kann.

Bloß gibt es eben sehr viele hautnah emotionalisierende Kurzdokus. Allein der WDR produziert "hunderte" Doku-Sendungen im Jahr für sein Drittes Programm und die ARD, sagt Ellen Ehni im oben verlinkten Interview. Für andere, leisere dokumentarische Formen, die nicht von Anfang an überwältigen wollen, gibt es in der nominell großen Landschaft des deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehens dennoch keine festen Sendeplätze. Diese beinharte Durchformatierung ist Teil des Problems.

Verwischte Grenzen

Teil der medienpolitischen Spiele ist sie auch. Einige der Bundesländer fordern: "Zur Profilschärfung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollen die Bereiche Information, Kultur und Bildung den Schwerpunkt am Gesamtangebot bilden." ARD und ZDF argumentieren natürlich dagegen:

"Nicht möglich sei, ganze Bereiche wie Unterhaltung und Sport aus dem Programmauftrag zu nehmen. '... Zumal es auch keine trennscharfe Abgrenzung der Genres gibt'. Serien wie 'Charité' und 'Babylon Berlin' seien Unterhaltung, aber auch Bildung und Information",

zitierte die dpa kürzlich den ARD-Vorsitzenden Ulrich Wilhelm. Klar, dass die Öffentlich-Rechtlichen viele Sendungen mit dem Begriff "Doku-" labeln, damit sie dem Bereich Information, Kultur und Bildung zugerechnet werden.

Und klar, alle Grenzen verwischen: zwischen Empfangswegen von Medien, Medienformen und -genres. Viele unterhaltende Sendungen vermitteln außerdem Informationen (abhängig davon, wieviel ihr Publikum schon vorher wusste). Medien, die gar nicht unterhalten wollen würden, würden vermutlich gar nicht genutzt werden. Aber auch innerhalb der Genres verwischen Grenzen. Vieles, das unter dem Label "Doku-" läuft, enthält unterhaltende Elemente, noch weit über die unscharf-englischen Genrenamen wie "Doku-Soap" und "Scripted Reality" hinaus. Investigativ-Reportagen arbeiten gerne mit "nachgestellten Szenen". Geschichts-Dokus bestehen zu weiten Teilen aus inszenierten Spielszenen mit Darstellern, an denen allenfalls noch die Stilechtheit der Kostüme rest-dokumentarischen Charakter besitzt. Wie gesagt: Der erste Piano-Klang ertönt oft zum ersten Bild. Und Protagonisten für all die emotionalen Dokus, die laufend  produziert werden, sind nicht mehr leicht zu finden – was wieder zum WDR-Fall führt. Es scheint übrigens absolut gerechtfertigt, wenn Menschen, die sich länger "hautnah" filmen lassen, angemessen dafür bezahlt werden. Schon weil die Aufnahmen außer von Fernsehmachern, denen Emotionalität ähnlich wichtig wie Echtheit ist, ja auch von allen anderen Zeitgenossen in jeden beliebigen Zusammenhang gestellt werden können.

Wenn der Begriff "Doku" durch immer mehr Sendungen, die nach starren Regeln unterhalten und "emotionalisieren" sollen, ausgehöhlt wird, tun die rundfunkbeitragsfinanzierten Sender sich und ihrem Auftrag keinen Gefallen. Wenigstens eine Sendereihe zu etablieren, die ohne vielleicht hübsche, aber eigentlich unnötige inszenatorische Mätzchen arbeitet und zufrieden ist, wenn ihr Publikum gegen Ende des Films, nachdem es mehrere Perspektiven kennengelernt und sich eine Meinung gebildet hat, eventuell auch noch emotionalisiert ist, wäre jetzt ein gutes Signal.

Im Februar wird die ARD wieder ihre jährliche Selbstlob-Veranstaltung "Top of the Docs" veranstalten. Das wäre ein guter Zeitpunkt dafür.