Informationelle Grundversorgung?

Informationelle Grundversorgung?
Erste Zwischenbilanzen zu NetzDG und DSGVO sind da. Viel Kritik ist berechtigt. Kritiker, die Google und Facebook einfach mal rasch zu Infrastruktur erklären, verdienen aber auch welche. Kann eine Einladung, beim neuen Medienstaatsvertrag mitzumachen, zu besseren Gesetzen führen?

Die heftig umstrittenen Gesetze mit den gewöhnungsbedürftigen Abkürzungsnamen, das deutsche NetzDG (Netzwerkdurchsetzungsgesetz, vgl. diese Kolumne) und die europäische DSGVO (Datenschutzgrundverordnung, vgl. diese), sind seit über sieben beziehungsweise über zwei Monaten vollständig in Kraft. Das ist zu kurz, um mittelfristige Auswirkungen festzustellen. Aber lang genug, um erste Zahlen zu nennen:

"Bei Google gingen nach eigenen Angaben für Youtube im ersten Halbjahr Beschwerden über 213.330 Inhalte mit Bezug auf das NetzDG ein, von denen der Konzern 27 Prozent unter Verweis auf Strafbestände oder die Community-Richtlinien des Videoportals entfernte. ... Twitter meldete 264.818 Beschwerden, ging aber nur gegen 28.645 der vorgebrachten Inhalte vor, also etwa 11 Prozent. Bei Facebook kamen in den ersten sechs Monaten 886 Beschwerden zusammen, mit denen Nutzer 1.704 Inhalte beanstandeten. Allerdings ist der Meldevorgang dort deutlich komplizierter als bei der Konkurrenz",

fasste Stefan Krempl bei golem.de Transparenzberichte der Netzwerke mit Beleg-Links zusammen. Was die DSGVO betrifft, schreibt heise.de:

"Mehr als zwei Monate nach Wirksamwerden der EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) sind über 1000 US-Nachrichtenseiten weiterhin nicht aus Europa zu erreichen. Dazu gehört auch jedes dritte Internetportal der 100 größten US-Zeitungen, hat das Nieman Lab gezählt."

Eine der zentralen Eigenschaften des World Wide Web, seine Weltumspannendheit, ist zum Teil außer Kraft. Haben bei beiden Gesetzen, die auf ihren langen Wegen durch die Instanzen (der EU beziehungsweise aus der vorigen, bis September 2017 regierenden deutschen Groko in den Bundestag) scharf kritisiert wurden und allerlei Veränderungen durchmachten, die Kritiker recht behalten?

Googles Sorgfalt

Die Gefahr des "Overblocking", also dass Anbieter wie Google und Facebook im Zweifel lieber mehr Inhalte schneller sperren als sie online stehen zu lassen und dafür womöglich hohe Strafen zahlen zu müssen, sei gegeben. Sagte zum Beispiel ein Google-Sprecher der "Süddeutschen": "Die Sorge vor sogenanntem Overblocking ist berechtigt. Wir müssen bei der Prüfung primär auf Schnelligkeit achten, wo es doch eigentlich um sorgfältiges Abwägen gehen müsste." Wobei es Google vor allem darum geht, sich ohnehin nicht lange mit Überprüfung raufgeladener Inhalte aufzuhalten.

Und die "SZ" erzählt im selben Artikel auch die Geschichte von der jüdischen US-amerikanischen Journalistin Virginia Heffernan, die virtuell in den Schwarzwald zog, um weniger von solcher Online-Hetze belästigt zu werden, die in den USA nicht, aber im deutschen Internet nun ausdrücklich verboten ist. (Darüber schrieb sie bei zeit.de).

Die vielleicht wichtigste Instanz zum Bemessen der Medienfreiheit, die Reporter ohne Grenzen, die mit ihrer jährlichen "Rangliste der Pressefreiheit" oft zitiert werden, äußerten dagegen wiederum die Einschätzung "NetzDG führt offenbar zu Overblocking". Allerdings sind die ROG-Schlussfolgerungen zweifelhaft, würde ich sagen. Mit Bezug auf "Facebook, Google & Co" argumentieren sie:

"Die Unternehmen sind Informationsquellen für Milliarden Menschen. Reporter ohne Grenzen betrachtet sie als Teil der informationellen Grundversorgung der Gesellschaft, sie sind also essentiell dafür, dass sich die Menschen in einer  demokratischen Öffentlichkeit frei und unabhängig informieren können. Dennoch löschen sie auf Basis ihrer Community Standards  Inhalte, die nach deutschem Recht eigentlich zulässig wären"

"Informationelle Selbstbestimmung" ist ein vom Bundesverfassungsgericht gesetzter Begriff, "Grundversorgung" stammt aus der gleichen Sphäre und bezieht sich etwa auch auf den Rundfunk. Über diese Begriffe wird mit Recht viel diskutiert oder müsste angesichts der Digitalisierung noch viel mehr diskutiert werden. Jetzt Facebook, Google und sein Youtube einseitig zu quasi gemeinnütziger Infrastruktur zu erkläen, trägt vor allem  zur Verschleierung der Tatsache bei, dass es sich um daten- (und turbo-) turbokapitalistische Milliardenkonzerne handelt, die ausschließlich auf ihre Profitinteressen achten und kaum auf Nutzerrechte. Außer vielleicht, wenn sie klar dazu gezwungen werden. Die gemeinnützige Infrastruktur ist das Internet, in dem Google und Facebook neben vielen anderen agieren. Das Bewusstsein dafür zu schärfen, schiene mir wichtiger als deren Quasi-Monopole durch unbedachte Wortwahl unnötig und vorauseilend auszubauen.

In China, das auf der aktuellen Pressefreiheits-Rangliste der ROG (PDF) Platz 176 von 180 Plätzen, belegt, will Google aktiv zur noch weiteren Durchsetzung der staatlichen Zensur beitragen. Und in Deutschland soll es Teil der informationellen Grundversorgung sein?

Weltweit weitere Gesetze

Jedenfalls wird das World Wide Web von ähnlichen Gesetzen geprägt werden. Zum Beispiel vom "California Consumer Privacy Act", der sich an der DSGVO orientiert. Kalifornien gilt einerseits, in der Trump-Ära zumal, als wichtigster US-amerikanischer Gegenpol zur zentralen Regierung in Washington. Andererseits "stören sich Firmen und Regulierer in den USA daran, dass die EU mit der DSGVO einen weltweiten Standard gesetzt hat", berichtet golem.de ebenfalls. Daher soll ein anderer Standard her. Dritterseits – es ist kompliziert ... – plane Donald Trumps Regierung selbst "offenbar, ein landesweit gültiges Datenschutzgesetz auf den Weg zu bringen", meldet dasselbe Portal.

Dass Trump ein Anhänger europäischer Datenschutz-Ideale ist, lässt sich schwer vorstellen. "Datenschutz" ist eben einfach ein Begriff, den jeder nach eigenen Vorstellungen verwendet. Insofern ist es nicht schlecht, wenn im Rechtsraum der EU schon mal Regeln bestehen und anhand gemachter Erfahrungen verbessert werden können.

Dass weitere, vergleichbare und  vergleichbar umstrittene EU-Gesetze auf dem Weg sind, gehört ebenfalls zur Gemengelage. Das hoch umstrittene Urheberrechts- und Uploadfilter-Recht, das im Juli überraschend noch mal eine Wendung nahm, ist eines davon. Und ein "Gesetz gegen Terrorpropaganda, das bereits im September vorgelegt werden" und "Plattformbetreiber wie Twitter und Facebook" sowie natürlich Youtube verpflichten soll, "terroristische Inhalte zu erkennen und zu löschen", versetzt die Journalistengewerkschaft DJV in Sorge. Davon "könnten auch journalistische Inhalte und zeitgeschichtlich bedeutsame Dokumente in großem Umfang betroffen sein". Wobei Sorgen vor terroristischen Inhalten, die ja auch in unmittelbaren Anleitungen zu Terrorakten bestehen können, auch nicht unberechtigt sind. Es bleibt nicht nur kompliziert, sondern wird komplizierter.

Vergleichsweise harmlos wirkt eine Initiative der deutschen Medienpolitik-Gesetzgeber aus den Bundesländern (die mit dem NetzDG wenig zu schaffen hatten; das war ja eine Idee des damaligen Bundesjustizministers Heiko Maas), bei der es dennoch auch ums gleiche Thema geht, etwa die "mögliche Regulierung von Intermediären". Was so ein "Intermediär" noch mal ist, beschreibt die rheinland-pfälzische Staatskanzlei so:

"Jedes Telemedium, das auch journalistisch-redaktionelle Inhalte Dritter aggregiert, selektiert und allgemein zugänglich präsentiert, ohne diese zu einem Gesamtangebot zusammenzufassen. Dies sind z. B. Angebote wie die Google Suchmaschine oder YouTube und soziale Netzwerke wie Facebook."

So steht's zumindst im Entwurf des neuen Medienstaatsvertrag, zu dem der bestehende, alte Rundfunkstaatsvertrags umgewandelt werden soll. Doch noch können solche Definitionen schärfer gefasst werden. Zu diesem Zweck verfielen die Staatskanzleien auf die gute Idee, "Bürgerinnen und Bürger sowie Medienschaffende" zum Mitmachen einzuladen, also eigene Formulierungsideen einzureichen. Wegen großer Resonanz ist der Einsendeschluss dieser Initiative von Ende August auf den 30. September 2018 verlängert worden. Ob die Bundesländer-Regierungen, die ja bei vielen Ressorts Kompromisse finden, außerdem Wahlkämpfe führen und hinterher neue Koalitionen bilden müssen, tatsächlich auf neue Ideen eingehen, muss sich zeigen. Angesichts der zumindest teilweise berechtigten Kritik am Bundes-NetzDG verdient diese Initiative aber erst mal Lob.