Polyamorie – eine familienethische Leerstelle (Teil 3)

Getty Images/iStockphoto/Vershinin
Themenreihe Polyamorie
Polyamorie – eine familienethische Leerstelle (Teil 3)
Der dritte Teil unserer Reihe fragt, wie es in Theologie und Kirche eigentlich bestellt ist um das Thema "Polyamorie" und wagt erste Erkundungen durch ein wenig beachtetes Feld.

Heute erscheint der dritte Beitrag unserer Themenreihe Polyamorie*. Nach einer grundsätzlichen Einführung in das Thema und Interviews mit zwei Personen aus der (christlichen) Poly-Community, geht es heute um Polyamorie in Theologie und Kirche.

 

Der lange Weg der Anerkennung
 

Ich erinnere mich noch gut an den Abend. Wir sitzen in einer unaufgeräumten WG-Küche. Jemand steht am Herd und kocht, die anderen sitzen mit einer Tasse Tee am Küchentisch. Die Szene hat etwas Beschauliches. Die Diskussion hingegen ist hitzig. Es ist das Jahr 2016, niemand rechnet mit einer baldigen Umsetzung einer Ehe für alle. Trotzdem steht der CSD Berlin vor der Tür, und das Thema liegt auf dem Tisch. Mein Gegenüber argumentiert scharfsinnig und klug, dass man nicht für die gleichgeschlechtliche Ehe sein könne, ohne sich nicht auch für eine rechtliche Anerkennung von polyamoren Lebensformen einzusetzen. Solidarität und gemeinsames Kämpfen gegen die exkludierenden Normierungen sei ein hohes Gut in der queeren Community. Ich halte dagegen. Nicht inhaltlich, aber in der Strategiefrage. Erst das eine, dann das andere. So sei es eben realistischer und tue der Solidarität keinen Abbruch. 

Dann wurde 2017 plötzlich die Ehe für alle real, veränderte damit auch die kirchliche Praxis und stellte die theologischen Diskussionen auf neuen Grund. Natürlich gibt es auch hier noch einiges zu tun: Die Trauung für alle ist immer noch nicht in allen Landeskirchen möglich, das Abstammungsrecht muss dringend reformiert werden und in der politischen Arena werden queere Familien und Partner:innenschaften regelmäßig von rechts als Feindbildkonstruktion verwendet. Zugleich denke ich immer wieder an diesen Abend aus Berliner Studientagen zurück und bezweifle stark, ob wir wirklich eine rechtliche Anerkennung für alle erreicht haben und blicke selbstkritisch auf meine Argumentation in der WG-Küche zurück. Ich frage mich, wo sind Solidarität und das gemeinsame Ringen hin? Die rechtliche Anerkennung und Absicherung von nicht-monogamen Beziehungen schimmert derzeit nicht einmal am Horizont, während der monogam lebende Teil der Community sich das Ja-Wort geben kann. Auch der Ehe für alle gingen Jahrzehnte intensiver Diskussion und politischer Basisarbeit voran. Mit dieser Blogreihe wollen wir diese in Kirche und Theologie hineinholen und hoffentlich nebenbei ein paar Klischees und Stereotypen ausräumen. 

Ethisch-theologische Erkundungen

Wissenschaftlich verlässliche Zahlen zum Thema Polyamorie gibt es meines Wissens derzeit keine. Zwei Dating-Portale haben Studien in Auftrag gegeben, die mit einer gewissen Vorsicht zu behandeln sind. Dort wurden alternative Beziehungsformen mit aufgenommen und abgefragt. Hier zeigt die Tendenz, dass Polyamorie und konsensuelle nicht-Monogamie gerade in den jüngeren Generationen an Bedeutung zunimmt. Auch medial bekommt das Thema immer mehr Aufmerksamkeit und zeigt die wachsende Relevanz. Neben der Aufklärungsarbeit von Influencer:innen und Podcaster:innen gibt es mittlerweile auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk Dokumentationen und Serien, die polyamore Beziehungsnetzwerke in den Mittelpunkt stellen. Lebensweltlich ist Polyamorie also ein Phänomen, das es ernst zu nehmen gilt und zeigt, dass Treue, Ehrlichkeit und Verbindlichkeit für viele Menschen eben nicht gleichzusetzen sind mit einer bestimmten Beziehungsform, wie der Monogamie. Wie bei der Debatte um die Ehe für alle geht es bei dieser Beziehungsform auch um die gesellschaftliche Anerkennung einerseits und die rechtliche Absicherung andererseits. Für letzteres lässt sich der Status quo schnell zusammenfassen: Polyamorie ist rechtlich nicht geregelt (ich empfehle hier den gleichnamigen Deutschlandfunk Nova Artikel mit der Jurstin Leonie Groß-Usai). Im Gegenteil, wer in Deutschland mehr als einen Menschen heiraten oder eine Lebenspartner:innenschaft eingehen möchte, macht sich strafbar. Und auch jenseits der Ehe gibt es derzeit keinerlei rechtliche Absicherung für polyamore Netzwerke – mit oder ohne Kinder. Auch bei der viel diskutierten Verantwortungsgemeinschaft aus dem Koalitionsvertrag der Ampel sind Ehe und Liebesbeziehung explizit ausgenommen (zu heiß ist dieses politische Eisen). Sie sollen den "besonderen Schutz von Ehe und Familie" nicht in Frage stellen.

Auch innerhalb der evangelischen Ethik ist das Thema eine Leerstelle. Eine Ausnahme ist der ev. Theologe und Ethiker Michael Coors, der sich mit queer ethics und alternativen Beziehungsformen auseinandersetzt (vgl. Podcastfolge von "Erleuchtung garantiert"). Einerseits überrascht dieser Befund nicht. Denn die protestantische Familien- und Sexualethik ist stark geprägt und normiert durch die monogame (oft heterosexuelle) Ehe bzw. eheanaloge Beziehungen. Andererseits gehören Beziehungsformen im Plural zur Lebensrealität der Moderne und ich wünsche mir hier eine grundsätzliche Sprachfähigkeit innerhalb von Theologie und Kirche. Spannenderweise könnte man in meinen Augen polyamore Beziehungen gut in den Horizont des EKD-Familienpapiers "Zwischen Autonomie und Angewiesenheit" stellen. Natürlich sind Beziehungskonstellationen dieserart nicht explizit im Papier mitgedacht, ließen sich aber an unterschiedlichen Stellen anknüpfen: Familien und Ehe sind im Wandel und pluralisieren sich. Hier wären polyamore Partner:innenschaften und Familien eine Form dieser Pluralisierung, die geprägt sind von Liebe und Fürsorge untereinander und sich ebenfalls durch Verbindlichkeit, Verantwortung und Verlässlichkeit auszeichnen. Während der viel weiter gefasst Begriff der konsensuellen nicht-Monogamie durchaus auch exklusive, d.h. monoromantische Liebesbeziehung zwischen zwei Menschen bei gleichzeitiger Offenheit, Transparenz und Absprache für kurzweilige sexuelle Kontakte außerhalb dieser Zweierbeziehung umfasst, geht es bei der Polyamorie um verbindliche und auf Dauer angelegte (Liebes-)Beziehungen zwischen mehr als zwei Menschen. Beziehungswerte wie Treue, offene Kommunikation, Konsens und Verantwortung werden hier sehr ernst genommen und in der Ratgeberliteratur ausführlich behandelt. Dabei geht es natürlich nicht darum, eine Beziehungsform als die moralisch überlegenere zu qualifizieren – um dieses Vorurteil aus dem Weg zu räumen. Auch polyamore Beziehungsnetzwerke beinhaltet Konflikte, die gelöst werden wollen, Emotionen, die gefühlt und bearbeitet werden wollen und eine Kommunikations- und Absprachenotwendigkeit im Plural. Ein geflügelter Satz dabei lautet Liebe ist unendlich, Zeit und Ressourcen sind es nicht.

Verbindliche romantische Beziehungen im Plural zu führen, ist zunächst schlicht strukturell eine andere Antwort auf ein Phänomen, das Beziehungen jeder Art treffen kann: Man ist in einer liebevollen und glücklichen Beziehung und verliebt sich in eine andere Person. Anstatt diese Gefühle nun beiseite zu schieben oder die bestehende Beziehung gar zu beenden oder ein Betrugsszenario zu kreieren (weil man ersteres nicht schafft und zweiteres nicht will) wird versucht, einen vierten Weg zu gehen: Offene Kommunikation der Gefühle an alle beteiligten Personen und der damit einhergehenden Bedürfnisse sowie das gemeinsame konsensuelle Ausloten, welche Resonanzräume und Beziehungsformen dabei entstehen dürfen. 

Wie in monogamen Beziehungen können auch in polyamoren Beziehungsnetzwerken Kinderwünsche entstehen oder Sorge- und Pflegverantwortung für Eltern oder andere Angehörige eine Rolle spielen. Allerdings entsteht durch die rechtliche nicht-Anerkennung eine hoch vulnerable Situation, die besonders in finanziellen Fragen oder Krisensituationen (wie etwa Trennungen) zum Tragen kommen kann. Am Ende des Tages ist die Frage der Beziehungsform eine Gestaltungsaufgabe, die der (ethischen) Reflexion bedarf und je nach Kontext und Lebensabschnitt mit Blick auf die zur Verfügung stehenden Ressourcen auch unterschiedlich beantwortet werden kann. Unabhängig von diesen Lebensführungsfragen bin ich der Meinung, dass es in der evangelischen Theologie und Kirche hier einiges an Aufholbedarf gibt, um erstmal in diesem Bereich sprachfähig zu werden, eigene Vorurteile und Klischees abzubauen und Menschen in ihrer Vielfältigkeit, Beziehungen verbindlich zu leben, wahrzunehmen und im besten Fall auch lebensdienlich zu begleiten. Wie dies konkret mit Blick auf Gemeindearbeit und Kasualpraxis aussehen kann, wird Thema der nächsten beiden Blogbeiträge. 

Weiter geht es am 23. Oktober mit "Die unsichtbare Beziehungsrolltreppe"


(*) Neue Themenreihe Polyamorie

Die Leerstelle in Theologie und Kirche hinsichtlich der Beschäftigung mit Polyamorie und ethisch gelebter Nicht-Monogamie wollen wir in den kommenden Wochen und Beiträgen mit unserer "Themenreihe Polyamorie" füllen. Dazu haben Katharina Payk, ebenfalls für kreuz & queer schreibend, und ich uns zusammengetan. Katharina Payk ist evangelische Pfarrerin in Wien und als Hochschulseelsorgerin vor allem mit jungen Menschen arbeitend. Sie ist im Vorstand des Vereins "EvanQueer – queere Menschen in der Evangelischen Kirchen Österreichs" sowie Vorsitzende der Gleichstellungskommission der Evangelischen Kirche in Österreich. Ich bin wissenschaftliche:r Mitarbeiter:in an der Universität Hildesheim und forsche und promoviere dort in der Systematischen Theologie zu Queer Theologies. Zudem bin ich  Pfarrperson im Ehrenamt der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und im Team der queersensiblen Seelsorge in Hannover tätig. 

Neben dem ersten Einführungsblog "Was ist Polyamorie?" und diesem Beitrag werden wir uns unter anderem auch der Gemeindearbeit, biblischen Perspektiven auf das Thema und der wichtigsten Literatur widmen sowie familienethische Betrachtungsweisen berücksichtigen.