Gleichzeitigkeiten

Blog: Kreuz & Queer
Gleichzeitigkeiten
Am 14. Februar ist Aschermittwoch. Und es ist Valentinstag. Und es ist der 19. Tag nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie. Zeit, sich diese Gleichzeitigkeiten aus queerer Perspektive genauer anzuschauen.

Die Gleichzeitigkeit der Dinge beschäftigt mich. Sie ist heute ganz besonders stark ins Bild gesetzt: Heute ist Valentinstag, Aschermittwoch und der 19. Tag nach der ForuM-Studie.

Frisch Verliebte und Personen in glücklichen Beziehungen feiern heute den Valentinstag, den Tag der Liebenden. Sie schenken sich Blumen, gehen gemeinsam essen oder feiern mit anderen zusammen ihre Liebe. Gleichzeitig gibt es viele Menschen, die gerade eine Trennung hinter sich haben oder mitten drin stecken in schmerzhaften Trennungen oder Scheidungen. Andere sind verwitwet oder unfreiwillig single oder unglücklich in einer Beziehung lebend. Das sind alles keine Gründe, um mit Freude den Valentinstag zu feiern. Immerhin gibt es an vielen Orten heute Abend Segensgottesdienste, die alle einladen, die sich für sich allein oder mit einem oder mehreren Herzensmenschen gemeinsam einen Segen wünschen.

Heute ist aber nicht nur Valentinstag, sondern auch Aschermittwoch. In vielen Kirchen werden Andachten und Gottesdienste gefeiert und am Ende bekommen die Anwesenden ein Aschenkreuz auf die Stirn gezeichnet. Es ist die Erinnerung daran, dass nach den tollen Tagen von - je nach Region – Fastnacht, Karneval und Fasching nun die Fastenzeit beginnt. Sie ist 40 Tage lang und endet mit Ostern. Sie steht auch für die Zeit der Umkehr und Buße im Hinblick auf Versäumnisse und getanes Unrecht.

Heute ist auch der 19. Tag nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie am 25. Januar 2024. Die diesjährige Fastenzeit wird zur Umkehr und Buße im Hinblick auf geschehene sexualisierte Gewalt in den evangelischen Landeskirchen und der Diakonie nicht ausreichen. Und dennoch ist es eine Chance zum Innehalten, zum Zuhören und zur inhaltlichen und strukturellen Auseinandersetzung mit der ForuM-Studie, die ja bekanntlich nur die Spitze des Eisberges darstellt.

Jetzt gibt’s nichts mehr zu verdecken, zu relativieren, in die Vergangenheit zu verlagern oder wegzuschauen. Schuld- und Erschütterungsstarre reichen nicht mehr aus. Jetzt muss auf allen Leitungsebenen Verantwortung übernommen und gehandelt werden. Und alle Mitglieder evangelischer Landeskirchen, evangelischer Gemeinschaften und Diakonie sind verantwortlich, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen und das Notwendige zu tun und zwar gemeinsam mit Opferverbänden und Betroffenen und nicht ohne sie.

Seit die ForuM-Studie veröffentlicht wurde, habe ich viel in den mehr als 800 Seiten der Studie selbst und in Artikeln und Kommentaren dazu gelesen und zugehört. Nach außen bin ich erst einmal stumm geblieben. Worte hatte ich nicht. Es fällt mir nach wie vor schwer, welche zu finden.

Aber die Debatten gehen nicht spurlos an mir vorbei. Es ist schmerzhaft für mich, und ich bin traurig. Aber ich bin nicht überrascht. So wie es auch meine Kollegin Birgit Mattausch in ihrem letzten Spiritus-Beitrag am 12. Februar 2024 auf evangelisch.de schrieb.

Seit über 30 Jahren kritisiere ich als feministische queere Theologin und Pfarrerin patriarchale und heteronormative Machtstrukturen, die spiritueller Gewalt, Machtmissbrauch und auch sexualisierter Gewalt auf ganz verschiedenen Ebenen Vorschub leisten. Es ärgert mich seit Jahrzehnten und macht mich wütend, wie diese Kritik lange Zeit kaum wahrgenommen oder kritische Äußerungen beschwichtigt wurden und das Benennen patriarchaler Machtstrukturen oft mit dem Hinweis abgewehrt wurde, dass die evangelischen Kirchen aufgrund ihrer synodalen Strukturen diesbezüglich ja kaum Probleme hätten.

Ich kenne Erschütterungsnarrative auch gegenüber queeren Personen. In den letzten dreißig Jahren ist dazu immerhin reichlich gearbeitet worden, wie viel spirituelle Gewalt, Abwehr und Ausgrenzung gegenüber queeren Personen auch in evangelischen Kirchen ausgeübt wurde. In einigen Landeskirchen, wie in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau (EKHN), gibt es erste Schuldbekenntnisse dazu.

Diese Formen der physischen und psychischen Queerfeindlichkeit gehen nach meiner Überzeugung Hand in Hand mit einer heteronormativen und bigotten Sexualmoral.
Sie hat eine wissenschaftliche Sexualpädagogik, unabhängige Präventionsarbeit und klare Regeln und Standards gegenüber sexualisiertem Machtmissbrauch weggewischt oder mit dem Hinweis verhindert, dass die evangelischen Kirchen all das nicht bräuchten. Denn sie seien ja die aufgeklärten und "guten" christlichen Kirchen im Vergleich zu den katholischen und orthodoxen Geschwistern.

Meine eigenen Erfahrungen nehmen mich aber nicht aus der Verantwortung heraus. Ich bin eine Betroffene von jahrzehntelangen queerfeindlichen Haltungen und Verhaltensweisen einzelner Personen und christlicher Gruppen. Ich bin aber auch privilegierte evangelische Pfarrerin, die qua Amt mit verantwortlich ist für geschehenes Unrecht gegenüber Opfern von sexualisierter Gewalt, von rassistischen Übergriffen und anderen Formen von Diskriminierung. Insofern werde auch ich Betroffenen noch viel mehr zuhören und in Zusammenarbeit mit anderen gegen sexualisierte Gewalt tätig werden müssen.

Ich werde aber auch nicht aufhören darauf hinzuweisen, dass Gewaltformen intersektional zusammenhängen, wie es auch Sarah Vecera und Thea Hummel im Podcast der Vereinten Evangelischen Mission (VEM) „Stachel und Herz“ nicht müde werden zu betonen. Es dürfe keine "Opferolympiade" geben von Minderheiten und Opfergruppen, wen es wann und wie am schlimmsten getroffen hat, so sagen die beiden in ihrem Podcast-Beitrag mit dem Betroffenen-Sprecher der EKD, Detlev Zander.

Es darf aber auch nicht passieren, dass diese systemimmanenten Diskriminierungs- und Gewaltstrukturen in kirchlichen Kreisen stets nur im Hinblick auf eine Opfergruppe und ein Thema angeschaut wird, also zum Beispiel zum Thema Frauenfeindlichkeit, Rassismus oder Queerfeindlichkeit, statt das ganze Ausmaß intersektionaler Verstrickungen von Gewalt insgesamt wahrzunehmen und dagegen zu arbeiten. Nur dann können auch Präventions- und Interventionsmaßnahmen angemessen greifen und Menschenleben schützen.

Bei allen Knoten im Kopf und im Herzen sehe ich trotz allem die Chance, dass diese Gleichzeitigkeiten nebeneinander ihren Platz finden können: Liebende und beste Freund:innen, die den Valentinstag feiern und sich segnen lassen; Menschen, die den Aschermittwoch mit einem Gottesdienst inklusive Aschenkreuz begehen und sich auf die Fastenzeit vorbereiten; und alle Menschen, die angesichts der ForuM-Studie endlich aufwachen und verantwortlich handeln wollen. Es ist dringend nötig. Denn wir stehen – trotz aller Analysen und Kritik der letzten Jahrzehnte – noch ziemlich am Anfang der Aufarbeitung.

Zum Weiterlesen:

Gemeinsame Erklärung der Landeskirchen und des Rates der EKD sowie des Bundesvorstandes der Diakonie Deutschland zur Aufarbeitungsstudie „ForuM“ vom 6.2.2024

Beteiligungsforum sexualisierte Gewalt

Betroffenenvertretung

Auf Grenzen achten - Sicheren Ort geben. Prävention und Intervention.
Arbeitshilfe für Kirche und Diakonie bei sexualisierter Gewalt