Besuch in Bern Ende August, einen Monat, nachdem dort mit dem Pride-Day die Euro Games 2023 zu Ende gegangen sind. An vielen Orten war die bunte und offene Atmosphäre, welche die Euro Games bestimmte, noch deutlich zu spüren. Stadtpräsident (Oberbürgermeister) Alec von Graffenried und Greg Zwygart, Co-Präsident der Euro Games, zeigten sich nach den Spielen beide gleichermaßen davon überzeugt, dass dies das wesentliche Zeichen von Bern gewesen sei: Menschen aus der ganzen Welt zusammenzubringen und in großer Offenheit zu empfangen.
Diese Eindrücke habe ich im Kopf, als ich in der Ökumenischen Bibellese den Text für den 6. September, den Erscheinungstag dieses Blogs, lese. Matthäus 14,13-21, die Geschichte von der Speisung der 5000.
Die Menschen sind zwar damals nicht aus der ganzen Welt zusammengekommen, um Jesus zu hören, aber sie waren weit weg von zu Hause, und es war spät geworden an dem einsamen Ort, zu dem sie Jesus gefolgt sind. Jesu Jünger machen sich Sorgen, was diese Menschen essen sollen und bitten Jesus, seine Reden zu beenden und die Menschen in die umliegenden Dörfer zu schicken, damit sie dort etwas zu essen finden.
Jesus aber will die Menschen nicht wegschicken, sondern fragt seine Jünger, wie denn ihre Essensvorräte aussehen. "Fünf Brote und zwei Fische", ist die Antwort. Jesus lässt sie sich geben, spricht ein Dankgebet darüber und bittet die Jünger, dieses Essen unter die Menschen zu verteilen. Was eigentlich schon für dreizehn Personen kaum hätte reichen sollen, sättigt mehr als 5000 - und am Schluss bleiben noch zwölf Körbe Brot übrig.
In den Bibelwissenschaften finden sich unterschiedliche Auslegungen dieser Wundergeschichte, die in allen vier Evangelien überliefert ist. Die meisten Ausleger:innen stellen sie in die Reihe der "Geschenkwunder", zu denen zum Beispiel auch die Verwandlung von Wasser zu Wein bei der Hochzeit in Kanaa gehört (Joh 2,1-12). Kennzeichen dieser Geschenkwunder ist, dass Jesus mehr oder weniger unerwartet zu einer materiellen Überfülle verhilft. Damit wollen die Evangelisten deutlich machen, dass in Jesus die wahre Fülle des Lebens angebrochen ist.
In verschiedenen Momenten erinnert Jesus immer wieder daran, dass diese Fülle des Lebens nicht allein aus materiellem Wohlergehen besteht - zum Beispiel, wenn er während der Versuchung in der Wüste ein Wort aus 5. Mose 8,3 aufgreift und dem Versucher entgegnet: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes geht." (Mt 4,4) Manche Ausleger:innen sehen darin auch die Pointe der Geschichte von der Speisung der Fünftausend: Die Menschen hätten bei Jesus eine Form der Gemeinschaft erfahren, die sie so vorher noch nicht erlebt hatten. Diese "geistliche Speise" sei der eigentlich sättigende Moment des Ereignisses gewesen.
Zu so einer stark spirtualisierenden Auslegung will für mich aber nicht recht passen, dass am Schluss die Menge der Reste betont wird, die übrig bleibt. Andere Ausleger:innen - insbesondere in der Tradition einer materialistischen Bibelauslegung - erklären dies dadurch, dass die große Menschenmenge natürlich nicht völlig unvorbereitet aufgebrochen sei, um Jesus zu hören. Jede und jeder hätte irgendetwas zum Essen dabei gehabt - und dadurch, dass Jesus und seine Jünger angefangen haben, das scheinbar wenige, das sie dabei hatten, zu teilen, hätten sie die anderen angeregt, es ihnen gleich zu tun. Da niemand etwas für sich zurückhielt, habe es dann mehr als genug für alle gegeben.
Wer einmal die besondere Atmosphäre eines Großereignisses wie der Euro Games erlebt hat, dem oder der kommt vermutlich auch diese Interpretation zu kurz gegriffen vor: Natürlich geht es bei den Euro Games auch um das Gewinnen, auch um den sportlichen Erfolg. Prägend für die Masse der Teilnehmenden, prägend für eine Stadt und ihre queere Community bleiben aber in der Regel tatsächlich der Zusammenhalt und die Vielfalt - und für die vielen meist ehrenamtlichen Organisator:innen und Helfer:innen das Bewusstsein, etwas Großes und Besonderes verwirklicht zu haben.
Es konnten nicht alle gewinnen, aber gesättigt an der Erfahrung von Gemeinschaft und gestärkt sind vermutlich die meisten wieder von Bern nach Hause gefahren.
Es braucht diese Momente, in denen wir erfahren, Teil etwas Großen und Besonderen zu sein - damals in Galiläa wie heute. Vielleicht bin ich da mit Jesus in der Wüste nicht so satt geworden wie zu Hause, vielleicht habe ich in Bern nicht gewonnen - aber die Erinnerung, dabei gewesen zu sein, umgeben von tausenden Gleichgesinnter, gibt Kraft, wenn der Alltag wieder über mich einbricht und ich mich - in meiner Nachbarschaft, in meiner Arbeit, im meiner Gemeinde - so gar nicht zugehörig fühle.
Wer als Helfer:in oder Organisator:in zum Gelingen des Ereignisses beigetragen hat, und wohl auch wer diese Dynamik erlebt hat, für den oder die misst sich Erfolg nicht (mehr) in erster Linie am materiellen Ergebnis, sondern darin, dass der Geist dieser Veranstaltung übergesprungen ist (mehr dazu hier). Für viele ist so eine Erfahrung oft der Impuls, sich regelmäßig im Ehrenamt für die Community zu engagieren. Am Schluss nämlich bliebt dabei viel mehr übrig als eine Medaille oder fünf Brote und zwei Fische.