Am Sonntag ist der Evangelische Kirchentag in Nürnberg zu Ende gegangen. Über 70.000 Dauerkarten wurden verkauft, Tausende waren als Tagesgäste dabei. Rund 25.000 Menschen nahmen an den beiden Schlussgottesdiensten in der Innenstadt teil.
„Nürnberg hat den Kirchentag verzaubert und der Kirchentag hat Nürnberg verzaubert.“
So war es von vielen Stimmen während des Kirchentags zu hören. Ich habe es auch so erlebt: Die vollen Kirchen, die vielen religiösen, kulturellen und gesellschaftspolitischen Angebote in der Fußgängerzone diesseits und jenseits der Pegnitz und die vielen Open-Air-Bühnen haben die Stadt gerockt. Der Kirchentag war sichtbar und hörbar in der Stadt vertreten. Auch viele Passant:innen sind stehen geblieben und haben sie von den Konzerten, dem Kulturprogramm und der guten Stimmung in der Stadt anstecken lassen.
Oft waren Kirchen, Messehallen und Plätze wegen Überfüllung geschlossen. Dennoch blieben die Menschen friedlich. Es wurde gesungen, getanzt, diskutiert und gelacht und überwiegend klaglos in Schlangen angestanden. Die meisten waren froh und dankbar, dass es nach der Pandemie wieder möglich war, sich überhaupt beim Kirchentag zu treffen, zu diskutieren und so viel Spaß miteinander zu haben.
Viel gäbe es im Allgemeinen und im Besonderen über den Kirchentag zu sagen. Ich möchte meine Bilanz heute gemäß des Profils dieses Blogs auf das Thema queere Themen fokussieren.
Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen
Das Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen war auf dem Kirchentagsstadtplan nicht mehr drauf. Zu weit außerhalb war es gelegen. Entsprechend groß war die Sorge, dass die Menschen nicht zum Zentrum kommen würden. Denn zufällige Laufkundschaft konnte nicht erwartet werden. Aber die Menschen kamen. Und wie! Die großen Podiumsveranstaltungen waren alle gut gefüllt, meistens standen die Ampeln mit über 500 Personen im großen Saal auf Rot (in der digitalen APP des Kirchentags ein Zeichen, dass die Halle überfüllt ist).
„Die Hütte ist voll, die Stimmung ist gut und die Themen sind sowas von dran!“, so fasste es eine Teilnehmerin zusammen.
Und so war es auch. Das ist erfreulich. Denn das Zentrum ist erstmals ein fusioniertes Zentrum zwischen dem ehemaligen Zentrum Geschlechterwelten und Zentrum Regenbogen gewesen. Was in der Vorbereitung noch herausfordernd und manchmal schwierig war, stellte sich in der Durchführung während des Kirchentags als gute Fügung heraus: Die Podien wurden der vielfältigen Verschränktheit der Themen von Geschlechtsidentitäten, sexueller Orientierung und anderer Diskriminierungsstrukturen gerecht. Die eingeladenen Personen waren bekannt genug, um Menschen anzulocken und unabhängig genug, um ihre kritischen Perspektiven deutlich zu machen.
Themen im Zentrum waren unter anderem:
- Brauchen wir eine sexuelle Revolution?
- Sind Kirchen sichere Orte? Ein Gespräch zwischen religiösen "People of Color" und queeren Personen
- Speed-Dating mit geschlechtersensiblen Theologien
- Trans* Hype – echt jetzt?
- Wenn zwei oder drei queere Personen zusammen sind… Vielfalt in der Kirche
Vortragende und Podiumsgäste waren unter anderem:
- Piere Stutz, Autor, Speaker und geistlicher Begleiter, Osnabrück
- Sarah Vecera, Autorin, Sinnfluencerin, Stellvertretende Leiterin der Vereinigten Evangelischen Mission (VEM), Wuppertal
- Quinton Ceasar, Pastor aus Wiesmoor, Sinnfluencer und Prediger im Schlussgottesdienst auf dem Hauptmarkt
- Ellen und Steffi Radtke, Sinnfluencerinnen (Youtube-Kanal Anders.Amen)
- Maike Schöfer, Sinnfluencerin (Insta-Kanal Ja.Und.Amen)
- Anna-Nicole Heinrich, Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland
- Priscilla Schwendimann, Queere Pfarrerin (Mozaic Church, Zürich)
- Und so viele mehr…
Was mir besonders gut gefiel
Es wurde viel über Bündnisse gesprochen. Wie kann jeweils über den eigenen Tellerrand geschaut werden? Wie können sich Minderheitengruppen gegenseitig unterstützen und solidarisch sein, statt um den größten Opferstatus zu konkurrieren? Wie können über die queere Community hinaus die Themen Respekt, Sicherheit, Solidarität und Teilhabe für alle konzeptionell geplant und strategisch umgesetzt werden?
Queer und anti-rassistisch, feministisch und minderheitensensibel muss an kirchlichen Orten theologisch gedacht, gepredigt und umgesetzt werden. Davon sind Kirchen aber vielerorts noch meilenweit entfernt, trotz großer Errungenschaften in den letzten dreißig Jahren.
Wie können intersektionale Bündnisse nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis gestärkt und aufgebaut werden? Wie können anti-rassistische, postkoloniale, queere und minderheitensensible Begegnungs- und Lernorte entstehen, so wie auf dem Kirchentag, um sich zuzuhören, miteinander und voneinander zu lernen und gemeinsam für diskriminierungsfreie Räume einzutreten?
Die Bündnisse mit der Hirschfeld-Eddy-Stiftung, mit anti-rassistischen Netzwerken, mit dem Menschenrechtsbüro der Stadt Nürnberg, mit regionalen Gruppen und mit queersensiblen kirchlichen Netzwerken und Beratungsstellen haben dem Zentrum gut getan und das Profil geschärft. So muss es auch in Zukunft weiter gehen.
Namensfeier
Ein besonderes Highlight war für mich darüber hinaus die Namensfeier für 35 trans* und non-binäre Personen in einem öffentlichen Gottesdienst in der Christuskirche in Nürnberg. Die queere Pfarrerin Priscilla Schwendimann und ihr Team von der Mozaic Church in Zürich hatten dazu eingeladen. Es war meines Wissens ein historischer Gottesdienst. Nie vorher hatte es auf den Kirchentag ein offiziell vom Kirchentag ausgesprochenes Angebot gegeben, dass eine solche Namensfeier mit Segen für alle in einem Gottesdienst gefeiert wird.
Es war für mich und viele andere in der vollen Kirche berührend zu erleben, wie viel es den Personen bedeutet, mit ihrem teilweise neuen Namen und ihren für sie stimmigen Pronomen angesprochen und gesegnet zu werden. Die Predigt, Liturgie und Musik waren einfühlsam und ermutigend zum Thema des Gottesdienstes abgestimmt. Es war Raum für Klage und Dank, Gotteslob, Fürbitte und Gebet im Gottesdienst. Und nicht nur mir liefen mehr als einmal die Tränen.
Fazit: Queersensible Rituale und Segen sind Kernkompetenzen christlicher Kirchen. Es gibt großen Bedarf dafür. Warum bieten wir es nicht viel häufiger an?
Schlussgottesdienste
Quinton Ceasar, „Person of Color“ aus Südafrika und Pastor in Wiesmoor, hielt die Predigt beim Schlussgottesdienst auf dem Hauptmarkt. Er sprach sich für eine diskriminierungsfeie Kirche aus, in der es sichere Orte auch für Minderheiten gibt. Die gibt es aber noch nicht. Er sprach von einem queeren G*tt, ein G*tt jenseits aller menschlichen Kategorien und Normen, jenseits von Heteronormativität und Rassismus und an der Seite derjenigen stehend, die immer noch gemobbt, verlacht und ausgegrenzt werden, weil sie irgendwie anders sind als der kirchliche Mainstream.
Seine Botschaft hat mich berührt, nachdenklich gemacht, irritiert und begeistert. Es war eine echte prophetische Zeitansage. Hier ein Ausschnitt daraus:
„Doch wenn ihr von der Liebe predigt, die alles besiegt,
und trotzdem meine Geschwister und mich diskriminiert –
wegen unseres Einkommen, unserer Hautfarbe,
unserer Behinderung oder unserer queeren Identität.
Dann sagen wir: Moetie liegie daai kind! (Lügt uns nicht an!)
Meine Geschwister und ich –
wir sind Kirche.
Wir sind kein Gegenüber,
brauchen keine Nächstenliebe oder Zuwendung von oben herab.
Wir sind Kirche.
Und meine Geschwister und ich sagen: Jetzt ist die Zeit!
Wir vertrauen eurer Liebe nicht.
Wir haben keine sicheren Orte
in euren Kirchen.“(Quinton Ceasar)
Es war eine kritische und provokante Predigt, die sofort reflexhaft einen Shitstorm im Netz auslöste. Warum? Weil er, wie damals Martin Luther King, angesichts von Rassismus keine neutrale Wohlfühlpredigt gehalten hat, sondern eine klare und deutliche Zeitansage.
Und sofort wird jemand, der sich in der Kirche angesichts von Rassismus nicht sicher fühlt und von einer mutigen Vision erzählt, einmal mehr in den sozialen Medien bespuckt, beleidigt und auch von Menschen aus der geistlichen Zunft bestenfalls als „Aktivistenprediger“ abgekanzelt. Diese Überheblichkeit ärgert mich maßlos.
Das Gute ist: So viele andere, gerade junge Menschen, gerade solche, die selbst Diskriminierung erlebt haben, feiern diese Abschlusspredigt und auch die von Alexander Brandl auf dem Kornmarkt als prophetische Worte, die mit Zivilcourage vorgetragen wurden.
Ich danke dem Deutschen Evangelischen Kirchentag dafür, dass diese beiden Personen predigen konnten. Und das nächste Mal predigt hoffentlich wieder eine couragierte Frau. Jetzt ist die Zeit für klare Worte. Jetzt.
Im zweiten Abschlussgottesdienst predigte der Sinnfluencer Alexander Brandl, Vikar aus München https://www.evangelisch.de/personen/alex-brandl. Er stellte die Geschichte von Constanze Pott vor, Mitglied der Landessynode in Bayern, die seit einigen Monaten offen als Frau lebt.
„Und dann kommen mir die Worte der Bibel in den Sinn. Für alles gibt es eine Zeit. Ich habe das lange nur als Zuspruch verstanden. Alles zu seiner Zeit - hab Vertrauen. Inzwischen höre ich in den Worten noch etwas anders. Eine Erinnerung. Für alles gibt es eine Zeit. Das heißt auch: Allem sollt ihr seine Zeit geben. Tanzen, Trauern, Lachen, Weinen, Sterben. Es ist Gottes Markt der Lebens-Möglichkeiten. Nicht alle finden wir gut. Aber alle sollen dazugehören.“
(Alexander Brandl)
Insgesamt war mein Eindruck, dass queere Themen nicht nur im Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen eine sichtbare und hörbare Rolle spielten. Die Fragen der jungen Leute und die Diskriminierungserfahrungen der Älteren ließen keinen Aufschub mehr zu. Und dank der wachsenden Bündnisse mit der Schwarzen und „People of Color“-Community und progressiver und liberaler Vertreter:innen vieler Netzwerke, Einrichtungen und Religionen wurde auch die intersektionale Verbindung von Vielfaltsdimensionen wie Religionsfreiheit, Hautfarbe, Alter, Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung so deutlich wie selten bei einem Kirchentag benannt und erkennbar.
Ich hoffe nun, dass alle diese Erfahrungen und Erkenntnisse, aber auch die Herausforderungen und das schwierige Ringen miteinander nicht mit dem Kirchentag aufhören, sondern weitergehen: mit Trotzkraft, Hoffnung, Solidarität und Zivilcourage, trotz aller Hindernisse und Barrieren, die in Kirchen und Gesellschaft immer noch im Wege stehen.
Zum Schluss ein von mir bearbeiteter Segen meines Kollegen Martin Franke-Coulbeaut, den ich im Zentrum Geschlechterwelten und Regenbogen am Ende einer Podiumsdiskussion sprechen konnte.
Segen
„G*tt segne Dich:
So wie Du bist – weiblich, männlich, divers, trans*, dazwischen oder ganz anders;
suchend und findend,
geliebt und liebend.G*ttes Segen begleite Dich auf Deinen Wegen:
Dort, wo Du Dich einsetzt und kämpfst
– und dort, wo Du Ruhe findest.G*tt segne Deine Liebe:
G*tt schenke und erhalte dir Menschen,
die zu dir stehen und zu denen du stehst.
G*ttes Segen zeige Dir im Leben immer wieder Wege und kleine Fluchten,
Umwege, die doch tragen,
Zeit, die Entwicklung schenkt,
Herbergen auf dem Weg;
und das Wissen um die große Weggemeinschaft
all derer, die vertrauen auf das Leben:
mit Respekt, Solidarität,
Gerechtigkeit und Frieden.“AMEN
Zum Weiterlesen
und weitere Pressemeldungen des Deutschen Evangelischen Kirchentags