Karte und Gebiet

Matthias Albrecht
Podcast-Tipp

Karte und Gebiet
Sex, Gender und Begehren sorgen in der frommen Welt für kontroverse Diskussionen. Aktuell widmet sich der christliche Ethik-Podcast "Karte und Gebiet" diesen Themen fundiert, persönlich, differenziert und äußerst hörenswert.

Im März 2021 wurde die erste Episode des Podcast Karte und Gebiet veröffentlicht. Das Format stammt von den beiden Theologen Thorsten Dietz und Tobias Faix. Faix ist Professor für Praktische Theologie an der CVJM-Hochschule in Kassel. Dietz arbeitet bei Fokus Theologie in Zürich für die Erwachsenenbildung der Deutschschweizer Reformierten Kirchen. Er war lange Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor und ist Privatdozent an der Universität Marburg. Karte und Gebiet, der Titel des Podcast ist so zu verstehen, dass die Dinge an sich das Gebiet sind. Die Karte wiederum ist das Bild, das wir von dem Gebiet bzw. den Gebieten haben. Dieser Metapher folgend stellen sich für Menschen immer wieder die Fragen: Welche Gebiete suchen wir auf? Welche meiden wir? Wie entscheiden wir uns, das Gebiet anhand der Karte zu durchschreiten? Reichen unsere Karten zur Erkundung eines Gebietes? Oder brauchen wir hin und wieder neue Karten, um gut in einem Gebiet leben zu können? Christliche Ethik kann laut Faix und Dietz Grundlage und Orientierung sein, um diese Fragen zu beantworten. Darum setzen sich die beiden in jeder Folge des Podcast mit einem Thema aus der Perspektive christlicher Ethik auseinander.

Zwei Episoden aus dem Frühjahr 2022 befassten sich mit Homosexualität. Dies stieß auf so hohe Resonanz, dass sich Faix und Dietz entschieden haben, die zweite Staffel ihres Formates ganz dem Bereich Sexualethik zu widmen. Anfang Januar startete die neue Staffel mit dem Thema Sex und Gender. Zum Einstieg berichtet Dietz, dass er vor 15 Jahren das erste Mal auf das Thema Gender gestoßen ist. Damals sei ihm berichtet worden, dass etwas Schlimmes auf uns zukomme, ein "Genderwahn". Es gebe da Menschen, die die Biologie komplett infrage stellen wollten und erklärten, dass Kategorien wie weiblich oder männlich allein auf das Soziale zurückgingen und folglich auch völlig frei wählbar sowie jederzeit wechselbar seien. In der Folge hat der Theologe begonnen sich mit den diversen Veröffentlichungen der Geschlechterforschung auseinander zu setzen. Zunächst war es sein Ziel dabei, diese vermeintlich gefährlichen Lehren zu kritisieren, doch dann erkannte er: "Das was ich in den Feindbildern so vorgestellt bekommen habe, von Leuten, die sagen, such dir dein Geschlecht aus, mach dir die Welt widdewidde wie sie dir gefällt und so; ich habs nicht gefunden. Ich habe die Feinde nicht gefunden". Es ist eine besondere Stärke von Karte und Gebiet, dass die beiden Podcaster die Hörer:innen immer wieder an ihren eigenen Erfahrungen und Entwicklungen mit den Themen teilhaben lassen. Diese Zeugnisse verleihen dem Format eine besondere Authentizität, bieten Identifikationspotential und regen so zur Selbstreflektion an.

Eine weitere große Stärke des Podcasts ist, dass Faix und Dietz es vermögen, einen guten Überblick über Themen zu geben. Dabei führen sie nachvollziehbar in wichtige Grundbegriffe ein und zeichnen geschichtliche Entwicklungen anschaulich nach. Nebenbei offenbaren sie hierdurch profunde Kenntnisse der jeweiligen Materie. So erklären die beiden in der Einstiegsepisode zu Sex und Gender, was diese Termini überhaupt bedeuten. Dazu unternehmen sie eine Reise durch die Geschichte angefangen bei Aristoteles Schriften zu Geschlecht, über den Kampf für Gleichheit im 18. Jahrhundert bis zur sogenannten sexuellen Revolution der 68er-Bewegung. Die Erkenntnisse dieser historischen Betrachtungen dürften viele ins Staunen versetzen. So zeigen die Theologen etwa auf, dass die Behauptung zweier grundsätzlich verschiedener und komplementär aufeinander verwiesener Geschlechtscharaktere alles andere als eine natürliche Gegebenheit ist. Vielmehr handelt es sich hier um einen Diskurs des 18. Jahrhunderts, der bis heute wirkmächtig ist, besonders auch in frommen christlichen Kreisen. Wer die Vorstellung, dass Männer und Frauen grundsätzlich verschieden und darin auf wechselseitige Ergänzung angelegt sind, also heute bemüht, folgt damit nicht der Heiligen Schrift, sondern dem Zeitgeist; nämlich dem des 18. Jahrhunderts, etwas das entsprechende Kreise gern ihren Gegner:innen vorwerfen. Daher quittiert Faix dies mit dem ironischen Kommentar: "Diese Zeitgeist-Christen immer". Ohne Frage ein weiterer Vorzug von Karte und Gebiet, dass das Gespräch der Podcaster immer wieder auch von Humor und Leichtigkeit getragen ist.

In der Episode zu Transidentität zeigt Dietz auf: "Die frühe Christenheit war sehr viel queerer, als die konservative Christenheit heute, die sich ernsthaft überlegen müsste, [.] wie man konservativ sein kann unter ständiger Abblendung der Vielfalt und Weite, die mal da war". Daran anschließend formuliert er: "Wer sich auf die Vergangenheit und Tradition beruft, sollte sie gut kennen". In Karte und Gebiet werden nicht nur Fakten vermittelt, sondern diese auch differenziert, kategorisiert und kritisch eingeordnet. Dietz schlägt beispielsweise eine Dreier-Typologie der "Trans-Kritik" vor. So unterscheidet er erstens zwischen der grundsätzlichen Ablehnung von Trans-Menschen und des Phänomens an sich, zweitens Sorgen bezüglich Transidentität und drittens jenen, die Ängste vor Trans-Menschen schüren. Es gelingt dem Theologen dabei, die jeweiligen Kernaussagen präzise herauszuarbeiten. Dietz hat hierzu etwa das Buch Transsexualität: Was ist eine Frau? Was ist ein Mann? - Eine Streitschrift von Alice Schwarzer et al. gelesen. Er legt dar, dass Schwarzers Sorge sei, dass Frauen, die aufgrund ihrer Nicht-Konformität mit gängigen Geschlechtsrollenerwartungen im Wechsel des Geschlechts einen Ausweg suchen könnten und es deshalb zu einem regelrechten Hype von Transidentität komme. Faix macht klar, dass es Trans-Menschen nicht um eine Flucht aus ihrem Geschlecht geht, sondern, dass sie ganz im Gegenteil einfach das Geschlecht leben wollen, dem sie zugehören. Dietz ergänzt, dass für die Behauptung eines Hypes der Transidentität die empirische Datengrundlage fehle. Die wissenschaftliche Überprüfbarkeit der getätigten Aussagen ist ein besonderes Qualitätsmerkmal von Karte und Gebiet.

Die biblische und theologische Fundierung ihrer ethischen Überlegungen spielt für Faix und Dietz eine zentrale Rolle. Das wird zum Beispiel dann deutlich, wenn die beiden erklären, dass die Richtung des geplanten Selbstbestimmungsgesetzes, das Menschen unter anderen erstmals die Möglichkeit geben wird, selbstbestimmt über ihren Geschlechtseintrag zu entscheiden, gut sei. Dietz begründet diese Bewertung indem er erläutert, dass Ethik nicht nur Gebots- und Regelethik ist. Er führt den Satz Jesu aus dem Matthäusevangelium im Kapitel 7 Vers 20 als wichtigen Prüfstein und Kriterium an. Dort heißt es: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Vor diesem Hintergrund formuliert der Theologe, dass "wir wissen, dass der Umgang mit transidenten Menschen viele in Verzweiflung gestürzt hat -wir haben eine hohe Selbsttötungsrate-, Menschen zu Selbstverletzung oder Selbsthass getrieben hat. Der Umgang mit ihnen im Sinn[e von] Diskriminierung und Ausgrenzung oder Verurteilung oder der Aufforderung, dann bete doch, jetzt werd doch endlich normal, das wächst sich aus - also all das, was man mit ihnen gemacht hat -, Angebote zur Heilung, hat schlimmen Schaden gestiftet. Der Rat zur Akzeptanz des eigenen Körpers erwies sich ganz oft als nicht lebbar. So […] etwas wahrzunehmen, den Schaden, den man angerichtet hat und die Schuld, die man damit auf sich geladen hat, muss doch zur Hinterfragung führen: Haben wir die richtige Norm vertreten?".

Die zweite Staffel von Karte und Gebiet ist geeignet für alle, die eine Einführung in die aktuellen Diskurse christlicher Sexualethik suchen, die sich für Theologie, Ethik, Queer- und Geschlechterforschung interessieren, die Wissenslücken füllen oder Bekanntes auffrischen wollen, die Anregungen zur Vertiefung suchen und vor allem für alle, die über sich selbst, ihre Ethik und ihr Handeln nachdenken wollen. Neben den bereits genannten sind in der zweiten Staffel Folgen zu den Themen sexualisierte Gewalt, Gleichberechtigung und verschiedene Paradigmen der Sexualethik erschienen. Faix und Dietz planen weitere Ausgaben zu Bisexualität, Queerness, Polyamorie sowie Ehe und Familie. Von den Hörer:innen des Podcasts, die oft in sehr intensiven Austausch mit den Machern stehen, sind bislang als Wunschthemen unter anderem vor- und außerehelicher Geschlechtsverkehr, Verhütung, Masturbation, Pornographie, Non-Binarität, "Sado-Maso-Praktiken", Singles und Sex sowie Intersexualität genannt worden. Das Bedürfnis nach einer christlich-ethischen Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen scheint enorm. Die zweite Staffel dürfte darum eine lange, erkenntnisreiche und intensive werden.

Alle Episoden und weitere Informationen unter: https://karte-und-gebiet.de/