Wer hat nicht aus Kindertagen jene Stimme im Ohr, die erklang, wenn einem irgendwer irgendein Päckchen in die Hand gedrückt hatte und man unbeholfen damit rumstand, unsicher, ob der drängenden Erwachsenen-Blicke: "Wie sagt man?" Und anfangs wollte einem das verflixte Wort nicht einfallen, weil man noch beschäftigt war, die unbehagliche Situation auszuhalten im Wissen, dass es Regeln gab, die die Erwachsenen kannten, man selbst aber nicht oder halt nicht richtig. Diese alberne Freude der Großen, wenn man das Zauberwort über die Lippen gebracht hatte, die eigene Erleichterung darüber, drohendem Ungemach entronnen zu sein. Der erste kurze Erkenntnismoment, dass man das Bitte-Danke-Spiel eines Tages selbst spielen könnte, womöglich durchaus zum eigenen Vorteil.
Viele halten "die Homosexuellen" generell für ein undankbares Völkchen. Jetzt ist schon so viel erreicht. Just am 1. Oktober vor fünf Jahren trat die vom Bundestag und Bundesrat beschlossene gleichgeschlechtliche Ehe in Kraft. Heute sind sicher einige dankbar fürs Heiratsglück. Wem das nicht so gefiel, der/die könnte heute ein bisschen dankbar sein, dass das christliche Abendland nicht mit einem Schlag unterging. Auch sonst lässt es sich als Teil der gedachten Community der LGBTIQ+ halbwegs gut leben. Und gerade hat sich ein schwuler Oberbürgermeister fürs Beibehalten von Weihnachtsbeleuchtung (natürlich mit LED-Lampen) ausgesprochen. Was will man mehr? Aber da bleibt so ein Genöhle, Gemeckere, jetzt auch noch Selbstbestimmungsrecht für Trans*Personen. Irgendwann muss doch mal gut sein ... "Wie sagt man?"
Es ist die Zeit des Erntedanks. Eine sehr schöne Zeit. Eine, idealtypisch gedacht, Zeit des Innehaltens, Zeit des Betrachtens, was eingebracht wurde. Ein kurzer Moment des Durchschnaufens, bevor es daran geht, Haus und Hof winterfest zu machen. Mir gefällt diese wohlige Landlust-Nostalgie, zugleich hadere ich sehr mit diesem Bild. Denn es hat mit meiner urbanen Lebenswirklichkeit wenig bis gar nichts zu tun. Die Wucht, mit der sich eine (auch christliche) Achtsamkeits-Industrie des Wechsels der Jahreszeiten bemächtigt, löst in mir eher Befremden aus. Das in endlosen Atem-Workshops, Baum-Seminaren und Selfcare-Coachings orchestrierte Dankbarkeitsgefühl besitzt so eine merkwürdige Ambivalenz: einerseits Hilfe, Impuls, sich selbst und andere/anderes bewusster wahrzunehmen, andererseits Selbstoptimierungsschmiede für den knallharten Wettbewerb in der Gesellschaft.
Jenseits konkreter Rituale, Gottesdienste gefiel mir am Erntedank immer die Idee, dass ich/wir etwas ernten, wofür wir gar nichts getan haben. Ich meine das Wunder der Schöpfung, dass die Erde da ist, dass Pflanzen wachsen, dass es Sterne gibt und so viel Erstaunliches mehr. Dass es Zeugung gibt, dass es einen wundersamen Kreislauf von Werden und Vergehen gibt. Alles ohne unser Zutun, alles längt und selbstverständlich da, bevor es uns gab. Umso mehr betrübt es mich, dass das Werden, für das ich als religiöser Mensch Gott/Göttin dankbar bin, im globalen Maßstab nicht mit genügend Einsatz für ein dankbares Bewahren der Schöpfung begleitet wird.
Hinsichtlich der gesellschaftlichen wie kirchlichen Situation und der Rechte von Homosexuellen muss man es mit der Dankbarkeit nicht übertreiben. Schon gar nicht gegenüber Gott/Göttin. Für die erreichten Gleichstellungen und die Anerkennung musste lang und hart gestritten werden. Gott hat da gar nichts gerichtet, das mussten engagierte Menschen tun. Trotzdem ist es eine gute Entwicklung, dass heutzutage die Mehrheit der evangelischen Christ:innen in Deutschland Schwule, Lesben, Bi-, Transsexuelle wohlwollend unterstützt (vielleicht auch nur wohlwollend wahrnimmt – achtsam!). Es ist eine gute Entwicklung, dass Paare, denen es wichtig ist, Segen erhalten, dass queere Jugendliche auch in der schwierigen Zeit des Coming-out von der evangelischen Kirche gesagt bekommen, dass ihre Liebe wichtig und richtig ist.
Leider ist das Erreichte alles andere als sicher. Ein Blick auf Deutschland zeigt eine steigende Zahl von Gewalttaten, zuletzt immer häufiger gegen Trans*Menschen. Ein Blick nach Europa zeigt das Erstarken autokratischer, "illiberaler" Regierungen, zu deren Politik fast immer die aktive Diskriminierung von Homosexuellen gehört. Nicht selten wird in diesen Ländern die Feindlichkeit von ultra-evangelikalen, ultra-orthodoxen Gruppen, Meinungsführern, Kirchenoberhäuptern unterstützt und massiv vorangetrieben. Durchaus ein Grund, mal mit allzu viel Dankbarkeit, wie prima Gott doch alles richtet, innezuhalten – es sei denn mit der, dass man selbst irgendwie und noch unbeschadet davonkommt.
Es gibt für mich eine Dankbarkeit, die zunächst Menschen gebührt, eine Dankbarkeit, die mir unverändert ein Wunder ist: In dunklen Zeiten haben ich, haben andere Homosexuelle Solidarität erfahren und erhalten. Das war alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ich bin mir ziemlicher sicher, dass es diesbezüglich auch eine kollektive Erinnerung von LGBTIQ+ gibt. "Wir" wissen, wer an unserer Seite war. Noch ein Wunder: Man kann auch in guten Zeiten beisammen sein, sich unterstützen und die Welt gemeinsam erleben und genießen. Zusammenhalt - ein Geschenk, wenn man so will – zeigt sich oft unvermutet und es gilt, ihn zu bewahren.
Mag sein, dass sich hinsichtlich des Miteinanders in unserer Welt gerade sehr viel ändert. Dating Apps haben die Suche nach einem Partner, einer Partnerin mit der Geste des Wegwischens kombiniert. Dankbarkeit verträgt sich mitunter schwerlich mit dem (männlichen) Bild des Machers, des Einzelkämpfers. Das Vorbild einer Gesellschaft des Müssen-Müssens ist ja eher die To-Do-Liste, wieso sollte man fürs Hamsterrad dankbar sein?
"Wie sagt man?" "Schön, dass es dich gibt", antwortet die Populärkultur, weil sich damit elegant rumdrucksen lässt und man Wörter wie "Danke" und "Ich liebe dich" vermeiden kann. Wer legt sich schon gerne fest? "(...) sie küssten einander und weinten miteinander, David aber am allermeisten. Und Jonathan sprach zu David. Geh hin mit Frieden!", heißt es ziemlich konkret im 1. Buch Samuel. (Im Beitrag von Kerstin Söderblom kann man mehr über die Liebe zwischen David und Jonathan nachlesen.)
Dass einem einst geliebte Menschen, nachdem man sich aus den Augen verloren hat, unversehens über den Weg laufen, dass man plötzlich auf der Straße ein Lächeln von einem (noch) unbekannten Mann erhält, wo man die Nacht zuvor völlig vergebens in der Schwulenkneipe Haltung bewahrt hat, dass sich Gottes Schöpfung der Schmetterlinge plötzlich im Bauch bemerkbar macht, obwohl es gerade gar nicht in die Lebensabschnittsplanung und das bevorstehende Auslandspraktikum passt, mit dem Fitnessstudio-Termin beim sexy Super-Coach kollidiert und auch den gebuchten Kirchen-Workshop „Glücklich sein mit dem Alten Testament“ gefährdet – es gibt ein Werden, das außerhalb des eigenen Wirkens stand und steht. Sollte man es bemerken und sollte sich ob solch freudiger Überraschungen fragend die Stimme aus der Kindheit melden, dann weiß man ja inzwischen, was die Antwort darauf ist.