Gefühlte Diskriminierung

Matthias Albrecht
Antidiskriminierung
Gefühlte Diskriminierung
Wird nur diskriminiert, wer sich auch diskriminiert fühlt? Ist Diskriminierung eine Sache des Empfindens? Im Kampf gegen Diskriminierung ist es wichtig, eine klare Antwort auf diese Fragen zu haben.

"Ich fühle mich nicht diskriminiert", dieser Satz ist mir schon öfter begegnet. Ich finde ihn immer wieder irritierend, zumindest dann, wenn er von Menschen ausgesprochen wird, die offenkundig Opfer von Diskriminierung sind. Zuletzt habe ich den Satz in einer Diskussion über das Diskriminierungsprivileg der Badischen Landeskirche gehört. Also jener Regelung, die es Pfarrer:innen nicht etwa untersagt, sondern explizit gestattet, Paaren die Trauung auf Grund ihres Geschlechtes zu verweigern. Aber auch in anderen Zusammenhängen wie dem Blutspendeverbot für Männer, die Sex mit Männern haben oder bei Versuchen mit der Reproduktion anti-homosexueller Stereotype Humor zu erzeugen ist mir die Aussage bereits begegnet. Im Folgenden setze ich mich daher mit den Fragen danach auseinander, warum Menschen, die diskriminiert werden, dieses nicht fühlen. Was sind die Ursachen dafür und welche Konsequenzen hat das für den Kampf gegen Diskriminierung?

Gefühle sind bei der Bewertung von Sachverhalten und darauf aufbauender Entscheidungen für uns Menschen wichtige Wegweiser. Stehen wir etwa am Rande einer stark befahrenen Straße und schauen dem regen Verkehr zu, dann löst der Gedanke der Überquerung Angst in uns aus. Daher entscheiden wir uns lieber ein Stück weiterzugehen, die Ampel zu nutzen und fühlen uns anschließend gut, weil wir richtig gehandelt haben. Doch nicht immer weisen uns Gefühle den richtigen Weg, besonders dann nicht, wenn die zu beurteilenden Sachverhalte komplexer werden. Denken wir an eine Frau, die in rasender Eifersucht davon überzeugt ist, dass ihre Partnerin sie mit deren bester Freundin betrügt und deshalb die Beziehung beendet, obwohl es in Wahrheit kein amouröses Verhältnis zwischen Partnerin und bester Freundin gibt. Ein anderes reales Beispiel ist die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel, die kein einziges Sachargument vorbringen konnte und trotzdem, allein aufgrund ihres Bauchgefühles, Kindern verweigert hat, vor dem Gesetz vollwertige Eltern zu haben, wenn diese gleichen Geschlechts sind. Gefühle, auch starke Gefühle, müssen nicht unbedingt zu einer korrekten Beurteilung eines Sachverhaltes führen. Die eifersüchtige Frau oder die Alt-Bundeskanzlerin haben beide eine individuelle Entwicklungsgeschichte, die sie an den Punkt geführt hat, die Dinge emotional so zu bewerten, wie sie es getan haben. Auch bei Menschen, die diskriminiert werden, dies aber nicht so empfinden, liegen die Ursprünge hierfür sehr wahrscheinlich in ihrer Entwicklungsgeschichte. Ich stelle hierzu eine lerntheoretisch fundierte und eine auf der Psychoanalyse basierende Überlegung an, um diesen Prozess nachvollziehbarer zu  machen.

Viele Menschen lernen bereits von Kindheit an, dass es nicht angemessen ist, sich diskriminiert zu fühlen. Unter Lernen verstehe ich hier, unter Bezugnahme auf die psychologischen Lerntheorien, einen impliziten Prozess und nicht das bewusste sowie systematische Vermitteln von Inhalten, die es sich dann zu merken gilt. Stellen wir uns vor, dass in einer Schulklasse vor oder vielleicht sogar während der Stunde versucht wird, mit der Reproduktion anti-homosexueller Stereotype Humor zu erzeugen. Bei Vorfällen wie diesen, in denen Diskriminierung geschieht, ist es Aufgabe aller Anwesenden, nicht nur und nicht zuvorderst der diskriminierten Person(en), entschiedenen Widerspruch zu erheben. Häufig bleibt eben dieser aber aus. Für viele Schüler:innen, die gleichgeschlechtlich lieben, ist es extrem schwer, ja fast unmöglich, den anderen in dieser Situation mitzuteilen, dass sie sich diskriminiert fühlen. Denn dem geäußerten Gefühl wird möglicherweise die Berechtigung abgesprochen oder es wird versucht, das Empfinden ins Lächerliche zu ziehen. "Oh, eine runde Mitleid", könnte es dann im Tonfall gespielter Betroffenheit von Mitschüler:innen heißen. Das wiederum tut noch mehr weh, als in diesem Moment über das Gefühl der Diskriminierung zu schweigen. Notgedrungen entscheiden sich diskriminierte Menschen, die das erleben darum nichts zu sagen, vielleicht sogar mit zu lachen. Der Lernprozess, der hier stattfindet, lässt sich so zusammenfassen: Wenn ich in Situationen, in denen ich diskriminiert werde, nichts sage, dann ist dieser unangenehme Zustand schnell vorbei und es geht mir wieder besser. Als Resultat davon wird immer häufiger in exakt diesem Muster gehandelt, bis es schließlich so gewohnheitsmäßig ist, dass es nicht mehr reflektiert wird. Selbstverständlich gibt es einen psychischen Preis, den die Betroffenen dafür zahlen müssen. Der Zugang zu den eigenen Gefühlen wird durch dieses Handlungsmuster verstellt. Betont sei, dass dies ein erzwungener Lernprozess ist, dem sich die diskriminierten Personen kaum entziehen können.

Die Psychoanalyse legt den Fokus auf innerpsychische Konflikte des Menschen. Ein solcher Konflikt könnte darin bestehen, einerseits den Wunsch zu verspüren, keine Diskriminierung zu erfahren, andererseits den Wunsch zu haben, von denen, die diskriminieren geliebt oder anerkannt zu werden. Wenn die Angst, sich diesem Konflikt direkt zu stellen, indem die Diskriminierenden mit ihrem Verhalten konfrontiert werden, zu groß ist, weil die Sorge vor dem Verlust wichtiger Bezugspersonen (Eltern, Geschwister, Freund:innen etc.) zu massiv wiegt, kann unsere Psyche zu sogenannten Abwehrmechanismen greifen. Einer dieser Abwehrmechanismen ist die Verleugnung. Verleugnung bedeutet, dass sich Menschen unbewusst weigern, eigene Wünsche sowie äußere Realitäten anzuerkennen. Dies kann sich darin zeigen, dass Personen aus der Aussage, sich nicht diskriminiert zu fühlen, die für sie beruhigende Gewissheit ziehen, dass, weil das so ist, auch keine Diskriminierung stattfindet, denn sonst würden sie es ja –ganz in Manier eines Zirkelschlusses– , auch spüren. Diese Logik folgt derer, die wir oft bei kleinen Kindern beobachten können, die ihr Gesicht hinter den Händen verstecken. Sie gehen fest davon aus, dass sie nicht mehr gesehen werden können, weil sie die anderen ebenfalls nicht sehen. Doch wie das Kind, das seine Hände irgendwann wieder herunter nimmt, nimmt auch unsere Psyche unbewusst sehr wohl war, dass die Diskriminierung keineswegs mit unserer Weigerung, sie sehen zu wollen, verschwindet. Je nachdem wie schwer der ungelöste Konflikt einer Person zu schaffen macht, können auch weitere Abwehrmechanismen, wie Spaltung und Projektion, zum Tragen kommen. Etwa dann, wenn der eigene Wunsch, sich gegen die Diskriminierung zu wehren, so bedrohlich ist, dass er wie ein Fremdkörper versucht wird aus dem eigenen Inneren abzusondern und auf andere Personen projiziert und dort bekämpft wird. So gibt es Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben,  sich aber über Aktivist:innen, die für die Rechte von Personen streiten, die gleichgeschlechtlich lieben, echauffieren, indem sie sie mit abwertenden Begriffen wie "Berufsschwuler" oder "Kampflesbe" beleidigen. Ganz so, als wäre es zwar berechtigt, sich als Ärztin beruflich für den Kampf gegen Krankheiten und damit für die physische Gesundheit der Menschen einzusetzen, aber hingegen nicht berechtigt, sich beruflich als Politiker:in oder Jurist:in für die psychische Gesundheit und Unversehrtheit von Menschen zu engagieren.

Diese beiden grob skizzierten Überlegungen sind kein Versuch der Pathologisierung. Bei Lernprozessen und Abwehrmechanismen handelt es sich um psychische Funktionen, über die jeder Mensch verfügt und die in jeder Psyche, auch der gesundesten, eine wichtige Rolle spielen. Es ist davon auszugehen, dass das, was ich beschrieben habe, viele Personen in ihrem Verhalten prägt, die einen mehr, die anderen weniger. Wer spürt, darunter zu leiden und dies lindern möchte, hat dazu die Möglichkeit durch Selbsthilfegruppen, Beratung, Seelsorge und Psychotherapie. Wer unter geschehender Diskriminierung nicht leidet, dem soll hier auch nicht wahrheitswidrig ein Leiden attestiert werden. Und nein, bevor der Vorwurf erhoben wird, die Person soll darüber auch nicht schweigen müssen. Es gilt die Freiheit der Meinungsäußerung. Mein Thema ist, in welchem Verhältnis das Nicht-Fühlen von Diskriminierung zu objektiv stattfindender Diskriminierung steht. Sowie welche Relevanz diese beiden Ebenen jeweils in Diskursen über Diskriminierung haben und haben sollten.

Diskriminierung ist ein Wort, das heutzutage ubiquitäre Verwendung findet. In der Alltagssprache, in politischen Debatten oder juristischen Auseinandersetzungen. Wenn ich den Begriff in diesem Text oder auch sonst in Diskussionen nutze, dann beziehe ich mich auf seine wissenschaftliche Definition. So fasst Foitzik Diskriminierung als "ein Unterscheiden, das Gruppen zu Gruppen macht, Hierarchien zwischen Gruppen herstellt und begründet und damit Menschen ausgrenzt und/oder benachteiligt". Es gibt noch viele weitere solcher wissenschaftlicher Definitionen, sie alle beschreiben aber im Kern dasselbe, insbesondere haben sie alle gemeinsam, dass sie sich auf die Strukturebene des menschlichen Zusammenlebens beziehen. Die Gefühlsebene bleibt unberücksichtigt. Ob ein Sachverhalt eine Diskriminierung ist oder nicht, das hängt also von strukturellen Gegebenheiten ab und nicht davon, was Menschen empfinden. Diese Eigenschaft trifft auf viele für unsere Gesellschaft zentrale Begriffe zu. Eine Richterin etwa urteilt nicht danach, ob sich eine Person, die sich in räuberischer Absicht illegal Zugang zu einem Haus verschafft hat, wie eine Einbrecherin fühlt, sondern, ob der Straftatbestand des Einbruchs erfüllt ist. Ein Arzt urteilt nicht danach, ob der Patient fühlt, dass sein Bein gebrochen ist, sondern ob ein Bruch des Knochens tatsächlich vorliegt. Mit der Diskriminierung ist es genauso. Ob sie vorliegt, lässt sich objektiv und gefühlsunabhängig prüfen. Das ist gut am Eingangsbeispiel des Diskriminierungsprivileges der Badischen Landeskirche nachzuvollziehen. Wird hier eine Unterscheidung getroffen, die Gruppen zu Gruppen macht? Ja, der Leib Christi wird zerteilt in Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben und Menschen, die verschiedengeschlechtlich lieben. Wird eine Hierarchie zwischen Gruppen hergestellt und begründet und damit Menschen ausgegrenzt und/oder benachteiligt? Ja. Pfarrer:innen haben das Recht, der einen Gruppe aufgrund ihres Geschlechtes die Trauung zu verweigern, während sie dieses Recht bei der anderen Gruppe nicht haben, das führt zur Ausgrenzung und Benachteiligung der Gruppe, die gleichgeschlechtlich lieben gegenüber der Gruppe die verschiedengeschlechtlich lieben. Es wird deutlich, dass es sich beim Diskriminierungsprivileg der Badischen Landeskirche tatsächlich um Diskriminierung handelt und auch dass es, um dies festzustellen, keiner Gefühlskomponente bedarf. Eine Diskriminierung bleibt eine Diskriminierung, auch dann, wenn sich Menschen, die real oder potentiell von dieser Diskriminierung betroffen sind, nicht durch selbige diskriminiert fühlen. Doch dieser Fakt wird in Diskursen über Diskriminierung und ihre Beendigung oft zu negieren versucht. Es findet eine unzulässige Vermischung von Sach- und Emotionsebene statt.  

Eine häufige Formulierung von Personen, die diskriminiert haben an ihre Opfer lautet: " … tut es mir leid, wenn Sie sich diskriminiert gefühlt haben". Was hier versucht wird ist, die Tatsache einer geschehenen Diskriminierung von der Ebene eines manifesten Sachverhaltes auf die latente Ebene der Gefühle zu verschieben. Und damit von der Ebene der Handlungen der Täter:innen auf die Ebene des psychischen Empfindens des Opfers. Der Subtext darunter lautet: "Nicht ich bin schuldig und in der Verantwortung, weil ich Dich diskriminiert habe, sondern Du bist es, weil Du Dich diskriminiert fühlst. Bitte bestätige mir genau das zu meiner Entlastung. Danach hast Du dann sowie so die komplette Verantwortung, wie Du weiter damit umgehst, denn ich bin dann aus der Sache heraus –wenn ich denn jemals drin war–, schließlich sind es ja allein Deine Gefühle". Das ist der Versuch einer Reviktimisierung. Hier wird das Opfer für die Konsequenzen des Geschehenen verantwortlich gemacht. Stößt solches Gebaren auf Akzeptanz oder auch nur auf Toleranz, öffnet das zukünftigem, diskriminierenden Verhalten den Raum. Schließlich wird hier die Feststellung, diskriminiert zu haben, mit dem Verweis auf die Gefühlsebene des Opfers, verneint, weshalb es, wenn sie damit durchkommen, auch keinen Grund für die Aggressor:innen gibt sich künftig anders zu verhalten.

Noch schwerer wiegt ein Phänomen, das ich als unheilige Allianz bezeichne. Gemeint ist ein Bündnis zwischen denen, die diskriminieren und denen, die diskriminiert werden. Einige Jahre vor der Einführung der Ehe für alle moderierte ich eine parteipolitische Diskussionsveranstaltung. Einer der dortigen Sprecher, der selbst gleichgeschlechtlich liebt, erklärte bei dieser Gelegenheit, dass er gar nicht so sehr für die Öffnung der Ehe und stattdessen für die Beibehaltung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft sei. So ein bisschen was Eigenes sollten wir, –damit meinte er die Menschen, die gleichgeschlechtlich lieben– doch behalten, lautete seine Argumentation. Er schien sich offenkundig vom staatlichen Verbot, die Ehe mit seinem Partner eingehen zu können, nicht diskriminiert zu fühlen. Diese Aussage dürfte viele in seiner Partei, der Bundesregierung, aber auch einen weiten Kreis von Menschen, die allesamt gemeinsam hatten, dass sie das Verbot der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aufrechterhalten wollten, gefreut haben. Hier hat sich ein Mensch, der diskriminiert wird, zum Kronzeugen der Akteur:innen eines Systems, das ihn diskriminiert, gemacht. Selbstverständlich ist es, wie bereits festgestellt, sein gutes Recht, seine Meinung kundzutun und auch mitzuteilen, dass er sich nicht diskriminiert fühlt. Problematisch wird es erst an dem Punkt, an dem die Diskriminierenden solche Aussagen für ihre Zwecke nutzen. Mit Verweis auf ein Statement wie dieses versuchen diejenigen von denen Diskriminierung ausgeht, den Diskriminierungsbegriff auszuhebeln und das eigene Handeln zu legitimieren sowie reinzuwaschen. Dies geschieht, indem sie erklären, dass es sich beim eigenen diskriminierenden Agieren gar nicht um Diskriminierung handeln kann, wenn die Betroffenen ja schon selbst erklären, sich nicht diskriminiert zu fühlen. Also im konkreten Beispiel: Eheverbot ist keine Diskriminierung, wenn ein Mensch, der gleichgeschlechtlich liebt, das nicht auch so empfindet. Die Diskriminierten werden als lebender Beweis zur Negation ihrer eigenen Diskriminierung benutzt. Das strukturelle Argument des Diskriminierungsbegriffs soll hier durch den Rekurs auf die Gefühlsebene unterlaufen werden.

Wer sich gegen Diskriminierung engagiert, ist gut beraten diese Strategie zur Verdeckung und Aufrechterhaltung der Unterdrückung entschieden zu bekämpfen. Ich schließe daher mit einer kleinen Handlungsempfehlung, wie dies gelingen kann:

  1. Argumente stets reflektieren, eine Vermischung der Ebenen erkennen und benennen.
  2. Klarstellen sowie erläutern, dass es sich bei Diskriminierung um einen Begriff handelt, der strukturelle Ungleichheiten meint, woran diese zu erkennen sind und dass der Begriff Gefühle als Beleg für das Vorliegen von Diskriminierung nicht einschließt.
  3. Auf einer Trennung der Ebenen des wissenschaftlichen Diskriminierungsbegriffes einerseits und des Gefühlserlebens andererseits beharren.
  4. Hinweise auf das Nicht-Fühlen von Diskriminierung als irrelevant für die gegenwärtig geführte Diskussion markieren.
  5. Versuche, Diskriminierung dennoch mit dem Verweis auf nicht gefühlte Diskriminierung zu legitimieren, immer wieder konsequent zurückweisen.

Ausdrücklich zu warnen ist davor, dem Argument einer nicht gefühlten Diskriminierung damit zu begegnen, dass es sich hierbei nur um ein Einzelbeispiel handelt. Damit wird indirekt anerkannt, dass die Gefühlsebene doch von Relevanz ist. Denn konsequent weitergedacht würde diese Entgegnung bedeuten, dass sich nur genügend Menschen nicht diskriminiert fühlen müssten, um legitim infrage zu stellen, dass es sich tatsächlich um eine Diskriminierung handelt.

 

Zitierte Literatur: Andreas Foitzik, Marc Holland-Cunz, Clara Riecke: Praxisbuch diskriminierungskritische Schule. Beltz Verlag (Weinheim, Basel) 2019.