Ich gehöre zu den Menschen, die ihren Tag gerne mit der Ökumenischen Bibellese und der Meditation über den jeweiligen Tagestext beginnen. Der Bibelleseplan führt in diesen Tagen durch den ersten Johannesbrief – ein Buch, das auch für eine queere Bibellektüre interessant ist.
Das zentrale Thema dieses Briefes ist die Liebe, die Gott uns Menschen in Jesus Christus erwiesen hat. In verschiedenen Gedankengängen führt der Autor aus, welche Konsequenzen dieses Geliebt-Sein für das Miteinander der Christ:innen hat.
"Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibt, bleibt in Gott, und Gott bleibt in ihm." (4,16b) Dies ist die Wechselbeziehung des Glaubens, die das Leben der Christ:innen bestimmt. Wir sind befähigt zur Liebe, weil Gott uns zuerst geliebt hat (4,19). Was aber heißt das für den Alltag der Christ:innen. Ich lese im ersten Johannesbrief drei Impulse:
Liebt einander, wie Gott euch geliebt hat!
Wer sich in der Liebe Gottes geborgen weiß, kann nicht anders als diese Liebe weiter zu geben. In den Gemeinden, an die Johannes schreibt, scheint dies von manchen bestritten zu werden. Der christliche Glaube dient für sie vor allem dem eigenen Seelenheil, der eigenen Heilsgewissheit – für das Miteinander mit anderen Menschen hat er keine Konsequenzen (vgl. die kurze bibelwissenschaftliche Einführung zum Ersten Johannesbrief). Für den Autor dagegen gehören Glauben und Leben unmittelbar zusammen: „Wer nicht liebt, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe.“ (4,8). Beides gehört für ihn so unmittelbar zusammen, dass er im Umkehrschluss sagen kann: „Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht.“ (4,20) Das klingt sehr absolut, scheint von einem ethischen Rigorismus zu zeugen, den Johannes vertritt. Das kann leicht zu einem Gefühl der Überforderung führen, deswegen ist der zweite Impuls wichtig, den ich in diesem Brief lese:
Liebe vergibt
So rigoros der Autor auf der einen Seite die Liebe untereinander einfordern kann, so deutlich sieht er auf der anderen Seite, dass wir Menschen scheitern können: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.“ (1,8) Darin jedoch besteht die Größe der Liebe Gottes, dass Gottes Liebe durch diese Sünde nicht enttäuscht wird: „Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.“ (1,9).
Mit diesen Überlegungen bezieht Johannes offenbar Position in einer weiteren, schwierigen Auseinandersetzung zum Ende des ersten Jahrhunderts, der Zeit, in dem sein Brief entstanden ist: Kann Menschen, die sich zu Christus bekennen, die Sündenvergebung aus der Liebe Gottes nur einmal zugesprochen werden, nämlich am Beginn ihres Weges als Christ:innen, bei der Taufe – oder ist solche Sündenvergebung immer wieder neu möglich, wenn wir unsere Sünden bekennen? Johannes vertritt für mich hier deutlich die zweite Position, weil er weiß, dass wir durch die Taufe nicht einfach zu vollkommenen Menschen geworden sind – daher ja auch seine eindringliche Aufforderung, einander jeden Tag neu zu lieben.
"Gott ist Licht, in ihm gibt es keine Finsternis" (1,5)
Johannes spricht von der Unvollkommenheit der Christ:innen, er spricht vom Hass untereinander und er spricht vom Hass „der Welt“ gegen die jungen Gemeinden. Oft nur in knappen Worten, doch aus ihnen spricht ein schonungsloser Realismus, der nicht über die dunklen Seiten des Lebens hinwegschaut.
Für mich hängt dieser Realismus eng mit der Überzeugung des Johannes zusammen, dass die Liebe Gottes alle Bereiche unseres Lebens durchdringt. Die Liebe erleuchtet auch die dunklen Seiten menschlicher und weltlicher Existenz: „Gott ist Licht, in ihm gibt es keine Finsternis“ (1,5). Wer sich von Gott geliebt weiß, braucht keine Angst haben vor der Dunkelheit – nicht vor der Dunkelheit der Welt und nicht vor der Dunkelheit der eigenen Existenz: „Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.“ (4,18).
Coming-Out und das Licht der Liebe Gottes
Hier nun werden die Worte des Ersten Johannesbriefs auch für queeres Christsein heute relevant: Coming-Out-Biographien sehen heute zwar ganz anders aus als zur Zeit meines Coming Outs vor mehr als dreißig Jahren, aber viele von uns kennen und erfahren nach wie vor solche dunklen Momente: Immer noch gibt es Diskriminierungserfahrung in gesellschaftlichen, beruflichen oder kirchlichen Zusammenhängen. Und auch in aktuellen Coming-Out-Biographien gibt es oft Momente, in denen Queers ihre sexuelle Identität als dunkle Seite ihrer Persönlichkeit wahrnehmen, die sie vor anderen verbergen und vielleicht auch vor sich selbst – und vor Gott - verstecken möchten.
Doch „Gott ist Licht, in ihm gibt es keine Finsternis“ – Gottes Licht fällt auch auf diese vermeintlich dunklen Seiten meiner Existenz. Gott will diese Seiten erhellen und ans Licht bringen. Für mich in meinem Coming-Out war die Auseinandersetzung mit diesem Satz des Ersten Johannesbriefes sehr wichtig: Wenn es bei Gott keine Finsternis gibt, dann kann ich diese vermeintlich dunkle Seite meiner Existenz vor Gott nicht verstecken. Gott sieht sie längst, Gott weiß längst um sie. Gott schließt sie ein in seine Liebe. Kann, muss ich dann im Dunklen halten, was vor Gott schon längst im Licht ist? Mein Herz bebt, mein Herz hat Angst, will so viel Licht nicht zulassen. Doch da ist dann noch ein anderer Satz, aus dem Abschnitt des Ersten Johannesbriefes, der in der Ökumenischen Bibellese für den heutigen Tag vorgesehen ist: „Daran erkennen wir, dass wir aus der Wahrheit sind, und können vor ihm unser Herz überzeugen, dass, wenn uns unser Herz verdammt, Gott größer ist als unser Herz und erkennt alle Dinge.“ (3,19f). Das ist eigentlich im Kontext des ganzen Briefes ein schwer zu verstehender Satz, aber für mich war er in diesem Moment unheimlich wichtig und befreiend: „Hab keine Angst, mein Herz, Gott hat diese Seite an mir schon längst gesehen – und in seiner Liebe angenommen.“ Ja, Gott ist Licht, in ihm gibt es keine Finsternis!