Mit Gott und Gewalt

Moskauer Metro
© Kerstin Söderblom
Kerstin Söderblom bloggt über die Russisch-Orthodoxe Kirche und der ÖRK und ihren Besuchs in Moskau zu einem internationalen Familienkongress.
Die russisch-orthodoxe Kirche spielt in der russischen Propaganda eine zentrale Rolle.
Mit Gott und Gewalt
Die russisch-orthodoxe Kirche spielt in Putins Angriffskrieg ideologisch eine zentrale Rolle. Die Regierung der Ukraine wird verteufelt. Minderheiten und Andersdenkende im In- und Ausland werden zu Kriminellen und Sündenböcken stilisiert.

Ich habe Kyrill I., das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) 2006 in Porto Alegre erlebt. Auch bei der nächsten Vollversammlung 2013 in Busan war er dabei. Ich hörte an beiden Orten seine aggressiven und queerfeindlichen Auslassungen und mir gruselte es. Kyrill inszenierte sich als vollmächtiger und starker Kirchenfürst, mit dem nicht zu spaßen ist. Nicht-Delegierte engagierte Christ:innen aus der ganzen Welt, die beim ÖRK ebenfalls anwesend sind, strafte er mit konsequenter Nicht-Achtung. Von Delegierten westlicher Mitgliedskirchen ließ er sich hoffieren und umwerben. Denn schon mehr als einmal hatte er gedroht, dass die Russisch-Orthodoxe Kirche den ÖRK verlassen würde, den sie als zu liberal empfand. Auf kontroverse sexualethische Debatten reagierte er konsequent ablehnend. Kurz, er war mir sofort unsympathisch und seine inhaltlichen Positionen erlebte ich als weltfremd und menschenfeindlich.

Die zarten Versuche verschiedener Delegierte des Weltkirchenrats, die Gleichberechtigung von LSBTIQ+ Personen in den verschiedenen Mitgliedskirchen des Weltkirchenrats voranzubringen und gleichgeschlechtliche Segnungsfeiern anzuerkennen, lehnt Kyrill bis heute ab.

In sogenannten "Reference Groups" zu menschlicher Sexualität, die das Zentralkomitee des ÖRK einsetzte, durfte über Homosexualität und gleichgeschlechtliche Liebe offiziell kaum gesprochen werden, tatsächlich waren und sind das aber die Hauptkonfliktpunkte. Immer wieder drohten Kyrill I. und andere orthodoxe Kirchenfürsten mit dem Austritt aus dem ÖRK, wenn dieser sich zu positiv zu Homosexualität, zur Ordination von Frauen und zu anderen Gleichberechtigungsthemen äußerte. Er nahm damit den gesamten Weltkirchenrat in Geiselhaft seiner erzkonservativen Positionen und erschwert bis heute eine offene und wertschätzende Debatte über kontroverse Themen.

1988 wurde Kyrill zum Erzbischof , 1991 zum Metropoliten ernannt. Im Dezember 2008 wurde Kyrill I. zum Statthalter des Patriarchen Amtes der Russisch-Orthodoxen Kirche gewählt. Im Februar 2009 wurde er in der Moskauer Christ-Erlöser-Kirche inthronisiert. Kyrill I. galt allgemein als gemäßigt konservativ und offen für den Dialog mit anderen christlichen Kirchen. Er pflegte gute Kontakte zum Vatikan. Schon 1971 wurde er zum offiziellen Vertreter des Moskauer Patriarchats beim Weltkirchenrat bestellt.  Seitdem wettert er allerdings ohne Unterlass gegen die „westliche Dekadenz“ unter anderem hinsichtlich ihrer angeblich viel zu laschen Sexualmoral und der Möglichkeit von Segensfeiern und Trauungen für gleichgeschlechtliche Paare. Er kritisiert, dass damit die traditionell russischen (Familien-)Werte zerstört würden.

Seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine wird die Nähe Kyrills zu Putin und dem despotischen Regime in Moskau noch einmal deutlicher als es vorher schon war. Kyrill I. wird nicht müde in Predigten und öffentlichen Reden die Ukraine als „militärischen Aggressor“ und „Schurkenstaat“ zu bezeichnen. Er übernimmt damit das Narrativ Putins, nach dem Russland sich vor dem Nazi-Staat der Ukraine verteidigen müsse, um russische Werte und Traditionen zu retten.

Schon bei der Annexion der Krim 2014 hatte Kyrill entscheidende Argumente für Putins geliefert, indem er die religiöse Bedeutung der Krim für Russland als Wiege des russisch-orthodoxen Christentums betonte. Diese Begründung sollte bereits im 18. Jahrhundert russische Ansprüche auf die Krim legitimieren. Putin verbindet diese religiösen Argumente schon länger mit der Lebensgeschichte seines russischen Vorbilds des Großfürsten Wladimir. Seine Taufe um das Jahr 988 n.Chr. soll die Grundlage für eine Massentaufe und damit zur Christianisierung der Kiewer Rus gelegt haben. Damit werden traditionelles orthodoxes Christentum, Vaterlandsliebe und konservative Familienwerte miteinander verwoben. Hinzukommen der zur Schau getragene Stolz auf militärische Stärke und die aggressive Inszenierung als Siegermacht im Zweiten Weltkrieg. Sie sind die Hauptzutaten des imperialen Narrativ Putins. Und Kyrill I. segnet dieses Narrativ vollmächtig ab.

Konsequenzen hat dieser aggressive Imperialismus und erzkonservativer Moralismus aber nicht nur für die Ukraine und alle ehemaligen Staaten der Sowjetunion, sondern vor allem auch für Minderheiten und Andersdenkende im eigenen Land.

Ich bin seit über 25 Jahren im Europäischen Forum christlicher LSBT+ Gruppen aktiv. Von Anfang an waren dort auch Teilnehmende aus Russland, der Ukraine und anderen osteuropäischen Ländern aktiv dabei. Sie erzählen seitdem immer wieder von den stärker werdenden Repressalien gegenüber queeren Menschen in Russland und anderen osteuropäischen Ländern.

2018 habe ich es am eigenen Leib erfahren. Ich besuchte meine damalige Mentee Maria (geänderter Name) in Moskau. Es war ein Besuch im Rahmen des Mentoring-Projekts des Europäischen Forums. Zwei Jahre haben zehn europäische Tandems miteinander intensiv gearbeitet und gefeiert. Ziel war es, osteuropäische queere und gleichzeitig religiös engagierte Aktivist:innen zu stärken und voneinander zu lernen. Gegenseitige Besuche waren ein Herzstück der Arbeit. Ich habe darüber hier berichtet.

Während meines Besuchs in Moskau sollte eigentlich ein internationaler Familienkongress stattfinden. Er war mit Hilfe von internationalen Nichtregierungsorganisationen (NGO´s) und russischen Gruppen organisiert worden. Dort sollten auch Regenbogenfamilien und andere Lebensformen diskutiert und gestärkt werden. Am Tagungsort gab es Bombendrohung, obwohl der Ort der Veranstaltung nicht öffentlich gemacht worden war. Es war also klar, dass die Veranstalter:innen abgehört und überwacht wurden und auch persönlich nicht mehr sicher waren. Der Kongress wurde dann in reduzierter Form digital durchgeführt. Aber der Geist von Aufbruch und Vorfreude war für alle verflogen. Für meine russischen Freund:innen und meine Mentee, die in der Vorbereitung des Kongresses über ein Jahr lang beteiligt waren, war diese Absage enttäuschend und vor allem beängstigend. Sie hatten und haben bis heute das Gefühl, dass ihr Leben überwacht wird und dass sie nicht offen sagen können, was sie denken und tun.

Diese Erfahrung war umso frustrierender, als zwei Monate vorher bereits eine osteuropäische christliche LSBTIQ+ Konferenz in Armenien ebenfalls wegen Bombendrohung und Morddrohung gegenüber den Veranstalter:innen abgesagt werden musste. Dort wollten wir uns als Teilnehmende des Mentoring-Projekts eigentlich treffen und gemeinsam weiter arbeiten. Darüber habe ich hier berichtet.

Angst und Einschüchterung der queeren Bevölkerung waren in Russland und anderen osteuropäischen Ländern schon 2018 an der Tagesordnung. Nun, nach dem Start des Angriffskrieges gegen die Ukraine, ist die Situation noch prekärer. Der Kontakt zu meinen Freund:innen in Russland via Facebook, Instagram und Google ist abgebrochen. Die Leute dort sind völlig verzweifelt. Sie lehnen Putins Angriffskrieg ab, trauen sich aber nicht zu öffentlichem Protest. Denn sie sind gleichzeitig im eigenen Land schon seit vielen Jahren die Sündenböcke für alles, was in Russland schief läuft. Sie beschmutzen angebliche russische Familienwerte, stellen sich gegen ein christlich-orthodoxes Menschenbild und versündigen sich gegen eine orthodoxe Sexualmoral. Sie gelten als westlich „verseucht“ und werden als Schuldige stilisiert, obwohl sie selbst Opfer von staatlichen und kirchlichen Dämonisierungs- und Kriminalisierungskampagnen sind.

Als ich in Moskau war, trafen wir uns in unauffälligen Räumen internationaler NGO´s. Dort hatte die queere christliche Gruppe einmal die Woche Gastrecht, um queerfreundliche Gottesdienste feiern und sich austauschen zu können. Bis zum Ukrainekrieg war es üblich, dass regelmäßig ordinierte Geistliche aus westlichen Ländern nach Russland kamen, um Gottesdienste und Segnungsfeiern mit den queeren Gläubigen vor Ort zu feiern. Das war und ist für sie enorm wichtig gewesen, um von autorisierten Geistlichen zu hören, dass queer und christlich sein sich nicht widerspricht. Für die queeren Gläubigen in Russland ist das überhaupt nicht selbstverständlich. Es fällt ihnen schwer anzunehmen, dass sie genauso wie alle anderen auch Gottes Ebenbild sind und gleichberechtigt zum Leib Christi dazu gehören.  Im eigenen Land haben sie zu lange ganz anderes gehört.

In dem unscheinbaren NGO-Raum habe ich damals ein Frauenpaar gesegnet und inoffiziell getraut. Alles war mit Regenbogentüchern und Blumen geschmückt. Das musste reichen. Offiziell hätte die Feier nie stattfinden können. Amals habe ich in Gesprächen viele Tränen erlebt, Verzweiflung aber auch Hoffnung auf Veränderung. Und jetzt? Jetzt werden sie wie alle Russen in Sippenhaft für diesen Angriffskrieg genommen, obwohl sie im eigenen Land Menschen zweiter Klasse sind. Ihre Situation verschlechtert sich ohne Kontakte zu ausländischen Freund:innen dramatisch. Sie erfahren Verurteilungen und religiös legitimierte Gewalt. Wo können sie sicher sein?

In der Kriegserklärung vom 24. Februar 2022 warf Putin dem Westen vor, „unsere traditionellen Werte zu zerstören und uns seine Pseudowerte aufzudrängen, die uns, unser Volk von innen zerfressen sollen, all diese Ideen, die er (der Westen) bei sich bereits aggressiv durchsetzt und die auf direktem Weg zu Verfall und Entartung führen, denn sie widersprechen der Natur des Menschen.“ (zitiert nach Schmoll, Heike (5.3.2022).

Damit ist unter anderem der westlich liberale Umgang mit gleichgeschlechtlichen Menschen und Personen mit nicht binären Geschlechtsidentitäten gemeint. In Russland leben selbst Tausende queere Menschen. Sie erleben im eigenen Land Diskriminierung und Hass und fürchten sich vor Kriminalisierung und Repressalien. Das interessiert Putin und seinen ehemaligen KGB Kollegen Kyrill I. überhaupt nicht. Für sie sind sie dekadente Verräter:innen des russischen Narrativs von Vaterland, Familienwerten und Wehrhaftigkeit.

Die Solidarität mit queeren russischen Menschen und allen, die sich in Russland mit Zivilcourage gegen den Krieg und ihre Narrative wenden, ist daher genauso wichtig wie die Solidarität mit den ukrainischen Opfern des Angriffskriegs. Wir dürfen russische und ukrainische Menschen nicht gegeneinander ausspielen. Damit würden wir den Narrativen der Despoten wie Putin, Kyrill und vielen anderen nur in die Hände spielen.

 

Zum Weiterlesen:

Schmoll, Heike, Mit Gott und Granaten, in: FAZ, 5.3.2022, Nr. 54, S. 6.

Interview mit Ostkirchen-Expertin Dagmar Heller, "Moskauer Patriarch verliert Gläubige in der Ukraine", evangelisch.de (9.3.2022)