Er war anders, ganz anders. Viele waren von ihm irritiert, verunsichert, andere von ihm begeistert. Vermutlich hätte er Karriere machen können am Tempel - als Sohn eines Priesters. Doch ihn zog es hinaus in die Wüste. Während andere in den Palästen feierten, aß er Heuschrecken und lebte in der Einöde.
Johannes war anders als andere Propheten, er rief zur radikalen Umkehr. Die Menschen, die seinen Ruf hörten, taufte er im Wasser des Jordans. Diese Taufe sollte sie vor dem kommenden Gericht Gottes bewahren.
Am dritten Advent, in dem wir uns gerade befinden, stehen Johannes und sein Vater Zacharias im Mittelpunkt: Während seines liturgischen Dienstes im Tempel erfährt der schon in die Jahre gekommene Priester Zacharias durch einen Engel Gottes, dass seine bis dahin kinderlose Frau Elisabeth ein Kind bekommen soll, das prophetische Kraft haben wird. Als Beweis für diese Verheißung lässt der Engel Zacharias verstummen. Erst mit der Geburt des kleinen Johannes findet er seine Sprache wieder und stimmt den Lobgesang an, der als Evangelium des dritten Advents gelesen wird:
"Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er hat besucht und erlöst sein Volk und hat uns aufgerichtet ein Horn des Heils im Hause seines Dieners David – wie er vorzeiten geredet hat durch den Mund seiner heiligen Propheten –, dass er uns errettete von unsern Feinden und aus der Hand aller, die uns hassen, und Barmherzigkeit erzeigte unsern Vätern und gedächte an seinen heiligen Bund, an den Eid, den er geschworen hat unserm Vater Abraham, uns zu geben, dass wir, erlöst aus der Hand der Feinde, ihm dienten ohne Furcht unser Leben lang in Heiligkeit und Gerechtigkeit vor seinen Augen.
Und du, Kindlein, wirst Prophet des Höchsten heißen. Denn du wirst dem Herrn vorangehen, dass du seinen Weg bereitest und Erkenntnis des Heils gebest seinem Volk in der Vergebung ihrer Sünden, durch die herzliche Barmherzigkeit unseres Gottes, durch die uns besuchen wird das aufgehende Licht aus der Höhe, auf dass es erscheine denen, die sitzen in Finsternis und Schatten des Todes, und richte unsere Füße auf den Weg des Friedens."
(Lk 1,67-79)
Zacharias wusste also schon bei der Geburt des Johannes, dass sein Sohn anders sein würde als die anderen - aber dass er so radikal auftreten und so enden würde, das hatte sich der Vater bestimmt nicht vorgestellt. Nachdem Johannes den Lebensstil des Königs Herodes Antipas scharf kritisiert, wird er von diesem gefangen genommen und verbringt vermutlich Jahre seines Lebens im Gefängnis. Das Kerkerdasein endet, als die Tochter der neuen Frau des Königs den Kopf des Johannes als Dankgeschenk für ihren Tanz vor Herodes fordert (Mk 6,17-29 par Mt 14,3-12).
Wer die Bibel in queerer Perspektive liest, kann in Johannes durchaus eine queere Persönlichkeit entdecken: Der Täufer passt nicht in die Konventionen seiner Zeit. Er wird nicht in der Traditon seines Vaters Priester am Tempel, er schließt sich aber auch nicht einer der vielen Protestbewegungen der damaligen Zeit an - auch wenn seine Verkündigung ganz offensichtlich von der Täufergemeinschaft in Qumran beeinflusst ist. Er bleibt für sich, aber keineswegs ungehört oder unbeachtet. Im Gegenteil, gerade sein Anderssein fasziniert und provoziert so, dass ein einsamer Prediger in der Wüste dem mächtigen Herodes unheimlich zu werden droht.
Das vielleicht sogar zu Recht: Johannes der Täufer gehört zu den wenigen Personen der Bibel, über die es zuverlässige profane Quellen gibt: In den Abschnitt Antiquitates Judaicae XVIII 5, 2 von Flavius Josephus ist er ausdrücklich erwähnt. Aus Lk 3,14 lässt sich schließen, dass eine ganze Reihe von Soldaten im Dienste des Herodes Antipas von dem Täufer beeindruckt waren. Dessen scharfe Kritik am Lebensstil des Herodes wurde also wohl auch von diesen Soldaten geteilt. Flavius Josephus sieht einen der Gründe für die Niederlage des Herodes Antipas im Krieg gegen Aretas darin, dass diese Soldaten dem König die Gefolgschaft versagten, nachdem der Täufer kurz vor Kriegsbeginn hingerichtet worden war (ausführlich siehe den Wikipedia-Beitrag zu Johannes der Täufer).
Während es mit Blick auf den Täufer eine relativ weite Interpretation von Queerness braucht, finden sich in den afrobrasilianischen Religionen Candomblé und Umbanda regelmäßig Queers in der Funktion des Pai oder der Mãe dos Santos (Vater oder Mutter der Heiligen), welche die Leitung eines terreiro (einer Kultstätte) innehaben. Juliana Viveira beschreibt die Qualitäten, die solch eine spirituelle Führungsperson braucht, in folgender Weise: "Wer in dieser Welt dazu bestimmt ist, eine spirituelle Führungsperson zu werden, (...) muss diese Bestimmung zunächst verstehen und akzeptieren und dann das ganze Leben dieser einen Sache widmen. Es ist die spirituelle Energie, die jemanden an so eine Position führt, also eine sehr starke Berufung, die dazu führt, dass man von vielen weltlichen Privilegien Abstand nehmen muss, um sich in den Dienst der Gottheiten zu stellen und ein Haus aufzubauen, das voll von geliebten Kindern im Geiste ist, die alle darauf warten, vom Licht in ihrem Leben erfüllt zu werden." (Portugiesisches Original: "As pessoas que estão nesse mundo destinadas a serem guias espirituais, [...] precisam compreender o seu destino e aceitá-lo, entregar a sua vida a uma causa, pois a energia espiritual os levarão a esta posição, é um chamado muito forte, onde terão que abrir mão de muitos privilégios mundanos para atender aos Odús, e criar uma Casa onde, estará repleta de filhos oriundos do espírito e do coração, todos aguardando por uma Luz em suas vidas.", https://www.iquilibrio.com/blog/espiritualidade/umbanda-candomble/pai-e-mae-de-santo/, ausführlich zum Hintergrund von Candomblé und Umbanda zum Beispiel Inga Scharf da Silva: Umbanda - Eine Religion zwischen Candomblé und Kardezismus. Über Synkretismus im städtischen Alltag Brasiliens, Hamburg 2004, online veröffentlicht 2017)
In dieser Beschreibung von Juliana Viveira werden einige Persönlichkeitsmerkmale benannt, die nun tatsächlich als Hinweis darauf verstanden werden können, warum Queers zu religiös-spirituellen Führungspersönlichkeiten werden können:
Die eigene Bestimmung erkennen und akzeptieren: Im Coming Out Prozess geht es in der Regel um genau diesen Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstannahme - trotz allen Andersseins.
Das ganze Leben dieser einen Sache widmen: Die wenigsten Queers werden zu "Berufs-Schwulen", "Berufs-Lesben" oder "Berufs-Queers". Aber bei vielen gibt es bestimmte Phasen im Coming-Out-Prozess und im eigenen Leben, in denen die queere Sache tatsächlich das alles bestimmende Thema ist. Solche Lebensphasen bedeuten dabei dann keineswegs ein Sich-um-sich-selber-Drehen, sondern können von großem Engagement für andere, für die queere Community geprägt sein.
Die queere Community wird in solchen Lebensphasen für viele zur Ersatzfamilie, zum Haus voller Geschwister im Geiste.
In all diesen Momenten geht es darum, neue, passende Lebensentwürfe zu finden und andere in solchen Findungsprozessen zu unterstützen. Hier liegt die spirituelle Kraft verborgen, von der Juliana Viveira mit Blick auf die Pais und Mães dos Santos spricht.
Die Selbstlosigkeit und Selbstzurücknahme, die sie ebenfalls als Kennzeichen anspricht, vermissen viele nun vielleicht bei dem Blick auf die queere Community: Werden hier nicht allzu oft nur die eigenen Eitelkeiten gepflegt? Wer aber genauer hinsieht oder länger nachdenkt, wir merken, welche wichtige Sozialfunktion viele queere Vereine erfüllen, wird die Wirtin der Szenekneipe entdecken, die für ihre Stammgäste zugleich Seelsorgerin ist. Trotz mancher Eitelkeiten: Die Lebendigkeit der queeren Szene lebt von Selbstlosigkeit und Selbstzurücknahme vieler Menschen, die sich hauptberuflich und ehrenamtlich engagieren!
Seit 1979 gibt es übrigens mit den Radical Faeries, den "Radikalen Tunten", tatsächlich eine queere (Lebens-)Gemeinschaft, in der sich Einsatz für die queere Community und Spiritualität verbinden. In den 1970er Jahren entstand in den USA unter schwulen Männern während der sexuellen Revolution auch eine Gegenkultur-Bewegung. Innerhalb der größer werdenden Schwulenbewegung wendeten sich die Radical Faeries gegen die zunehmende Kommerzialisierung und die patriarchalen Aspekte des moderne schwulen Lebens. Der Wikipedia-Beitrag zu den Radical Faeries beschreibt die Gemeinschaft so, dass dort respektvoller Umgang, Akzeptanz und Achtsamkeit das Zusammensein bestimmen. Aussehen und Alter spielen keine Rolle. Ältere Faeries und der Alterungsprozess als solches werden von den Faeries neu und positiv bewertet. In der Faerie-Gemeinschaft werde mehr Wert auf gegenseitige Inspiration, die Absichten und den Schaffensprozess gelegt als auf Resultat und Effizienz. In der beginnenden Aids-Pandemie haben die Faeries wesentlich zur Gründung der Schwestern der Perpetuellen Indulgenz beigetragen, die bis heute wichtige Präventionsarbeit in der schwulen Szene leisten.
So mag die queere Seite des Johannes uns ermutigen, die spirituellen Potenziale unserer eigenen Queerness zu erkennen, anzunehmen und für andere fruchtbar zu machen. Das wäre dann ein wahrhaft queerer dritter Advent!