Wählerisch

Montage aus einer Grafik der LSVD-Wahlprüfsteine und einem Detail eines Wahlzettel
Montage: Rainer Hörmann (unter Verwendung Grafik LSVD-Wahlprüfsteine und Detail Wahlzettel)
Bundestagswahl 2021
Wählerisch
Am 26. September ist Bundestagswahl. Auch wenn queere Themen in der breiten Öffentlichkeit kaum auftauchen, sind sie relevant: für die persönliche Wahlentscheidung und die Gesellschaft.

Eine klare Wahlempfehlung vorneweg: Gehen Sie am 26. September zur Wahl und stimmen Sie für die Ehe für alle. Wenn Sie in der Schweiz wohnen. Dort wird in einem Referendum entschieden, ob ein bereits vom Schweizer Parlament und Bundesrat getroffener Beschluss, der es ermöglicht, dass auch gleichgeschlechtliche Paare zivil heiraten können, angenommen wird.

In Deutschland scheint die gleichgeschlechtliche Ehe inzwischen so normal, dass sich mancher Kanzlerkandidat schon nicht mehr genau erinnert, dass er dagegen war. Aber heute ist er ja angeblich dafür und gegen Diskriminierung sind auch alle ... ein bisschen ... irgendwie.

Es ist bezeichnend, dass das wenige, was in Talkshows, Interviews zur Bundestagswahl an "queeren Themen" überhaupt angesprochen wird, sich noch um die Vergangenheit dreht. Der Wahl-O-Mat, der helfen soll, seine eigenen Positionen mit denen der Parteien abzugleichen, verschärft die Frage schon auf das, was uns heute umtreibt: das Geld. In These 11 wird nicht mehr das Recht auf Ehe thematisiert, sondern die Frage, was wie gefördert werden soll: "Die traditionelle Familie aus Vater, Mutter und Kindern soll stärker als andere Lebensgemeinschaften gefördert werden." Irgendwelche Privilegien braucht es immer, soll diese These wohl andeuten.

Wie schon vor vier Jahren hat der Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD) auch dieses Mal acht Wahlprüfsteine erstellt und Parteien zur Beantwortung vorgelegt. Es sind Anliegen, die in den allgemeine Wahldebatten nicht oder nur selten vorkommen. Für einen großen Teil der LGBTIQ-Community dürfen sie aber von großer Relevanz sein und hoffentlich mit in die Wahlentscheidung einfließen. Wie steht es um die Bekämpfung von Hasskriminalität, wie um die Selbstbestimmungsrechte von trans* und intergeschlechtlichen Menschen, wie um eine Flüchtlingspolitik, die queere Menschen nicht ausschließt? Mich haben zudem die Antworten zum Punkt 8 interessiert:

"Queere Gesundheit fördern: Wie wollen Sie die diskriminierenden Blutspendeverbote für ‚MSM‘ und Trans* aufheben, einen LSBTI-Gesundheitsbericht auflegen, das Krankheitsrisiko Diskriminierung angehen, für LSBTI-inklusive Gesundheitsversorgung sorgen sowie einen Rettungsschirm für Corona-bedrohte LSBTI-Infrastruktur spannen?"

Manche Parteien gingen tatsächlich nur auf den ersten Teil (Blutspende) ein. Mit anderen Punkten wie den physischen/psychischen Folgen ständiger Diskriminierung oder einer Gesundheitsversorgung, die auch Belange von LGBTIQ in Blick nimmt, wussten sie so gar nix anzufangen. Nicht nur nach den Erfahrungen aus der HIV- wie der Covid-Pandemie muss das enttäuschen.

Aber jede, jeder kann selbst auf der Internetseite des LSVD nachschauen. Neben der tabellarisch-grafischen Übersicht kann man auch die ausführlichen Antworten der Parteien nachlesen. (Link zum LSVD)

Geht es übrigens nach einer – nicht repräsentativen – Wahlstudie der Uni Gießen zur Bundestagswahl 2021 ist die Sache eindeutig. Mehr als die Hälfte von 5.149 befragten Personen gab an, für Bündnis90/Grüne stimmen zu wollen. Die CDU würde an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Wichtiger als solche Momentaufnahmen ist aber vielleicht diese Zahl aus der Studie: "In Deutschland sind schätzungsweise zwischen 1,8 und 3 Mio. der Wahlberechtigten LGBTIQ*." Also ein durchaus beachtlicher Teil. "Aus methodologischer Sicht", so sagen die Studienmacher, "stellen LGBTIQ* eine sogenannte Spezialpopulation dar, zu deren Verteilung in der Grundgesamtheit der deutschen Wahlbevölkerung aus nachvollziehbaren Gründen keine genauen Kennwerte vorliegen. In gängigen Wahlumfragen werden in der Regel keine Daten zur geschlechtlichen Identität (Gender) oder zur sexuellen Orientierung erhoben."

Natürlich kann man hier wieder eine Gretchen-Frage stellen, ob denn die sexuelle Orientierung eine Rolle spielt. Gegenfrage: Warum sollte sie nicht? Fragen wie bezahlbare Mieten treffen nicht nur Einzelne, sondern bedrohen auch die Infrastruktur der Community. Der Klimawandel fordert auch eine Haltung unserer – z.B. stark touristisch/global ausgerichteter – Lebensweise. Genau wie bei Schutz vor Kriminalität, Diskriminierung oder einer guten Gesundheitsversorgung müssen wir uns nicht mit "irgendwie mitgemeint" abspeisen lassen. Das ist übrigens so, wie in einer geänderten Haltung der evangelischen Kirche zunehmend mehr beherzigt wird: Es macht einen Unterschied, ob man nur von der Kanzel herab über "Andere" als eigentlich nicht anwesende Wesen spricht oder ob man sie wahrnimmt, ihnen auf Augenhöhe begegnet, sie sichtbar werden und teilhaben lässt.

Für meine Wahlentscheidung heißt das: Ich achte darauf, welche Politik die Parteien für die LGBTIQ-Community vorschlagen. Ich achte aber auch darauf, welchen Ton sie gegenüber anderen Gruppen anschlagen und ob sie ein Konzept vertreten, das ein gutes gesellschaftliches Zusammenleben ermöglicht.

Am 26. September ist Bundestagswahl und wir sollten es uns im besten Sinne leisten, wählerisch zu sein!