Das Durchlesen der Forderungskataloge von CSD-Paraden kann ein wenig erschöpfen. Es gibt einfach noch viel zu viel, das angegangen werden muss. Ein völlig subjektiv-zufälliger Blick auf die Internetseiten der CSD-Organisator*innen ergibt: Berlin hat es auf 32 Forderungen gebracht, Hamburg auf 18, Leipzig auf 27, München und Köln bringen es 14, Schwerin nur auf 8, die aber sehr ausformuliert. Wobei Schwerin, das sei angemerkt, eine Stadt ist, in der Polizeisprecher - wie queer.de berichtet - noch strafversetzt werden, weil sie es wagen, in den sozialen Medien einen Regenbogen im Profil der Polizeistelle zu posten!
In Stuttgart macht man sich gar nicht die Mühe, vollständige Sätze zu formulieren und listet mit Spiegelstrichen (oder sollten es gar Gedankenstriche sein?) "Erwartungen und Forderungen" auf. So um die 25, wenn ich mich nicht verzählt habe. Mit "Schaffe, schaffe – bunter werden!" als Motto wollte man in meiner Geburtsstadt wohl den regionalen Humor besonders betonen. Freiburg kann noch ganze Sätze nach dem Spiegelstrich, die Punkte werden aber nochmals - ganz die strukturierte Uni-Stadt - in Blöcke zusammengefasst. Unter "Gegen Rechtspopulismus, Nationalismus und religiösen Wahn" finden sich übrigens auch die Forderungen nach konsequenter Trennung von Kirche und Staat und die Anwendung des allgemeinen Arbeitsrechts auch bei kirchlicher Trägerschaft, wenn diese staatliche Aufgaben übernehmen und davon finanziert werden. Könnte man drüber nachdenken!
Zentrale Forderungen der CSD-Organisator*innen sind und bleiben die nach Akzeptanz; besserem Schutz vor Diskriminierung und Hasskriminalität; Bleiberecht und Schutz nicht nur queerer Flüchtlinge und Asylsuchender, in diesem Zusammenhang meist auch nach Kampf gegen Rassismus und für internationale Solidarität; und nicht zuletzt die Verbesserung der Situation von Trans*Menschen, etwa durch Ersetzung des geltenden Transsexuellengesetzes durch ein Gesetz zur geschlechtlichen Selbstbestimmung. Eine Fokussierung und Bündelung auf das eine große Thema scheint angesichts der Vielzahl von Communities in der Community sowie der diversen Baustellen und Ebenen queeren Engagements nicht mehr möglich. So bleibt oft nur das Aufaddieren, also Listen und Kataloge, angefüllt mit Einzelthemen. Da kommt eventuell die größere Dimension, die gerechte Teilhabe aller an der Gesellschaft, zu kurz.
Kein selbstverständliches Thema mehr scheint dagegen HIV/Aids zu sein. Hamburg ist neben Köln eine der wenigen Städte, die sich noch gegen Kürzungen bei der HIV-Prävention aussprechen. Nur vereinzelt findet der Klimawandel und daraus notwendige Veränderungen für unser Leben Erwähnung. Als Reaktion auf die Corona-Pandemie wird zwar gern die Notwendigkeit der Sichtbarkeit von LGBTQ* in der Öffentlichkeit (auf Paraden) betont, ein Ruf nach Unterstützung ob der ökonomischen Auswirkungen auf die Infrastruktur der Community bleibt meist aus.
In der Natur von politischen Forderungen liegt es natürlich, dass sie an die Verantwortlichen / die Gesellschaft gerichtet werden. Eher zurückhaltend wird die eigene Community adressiert. In München fordert man immerhin die Solidarität untereinander: "In Zeiten wachsender Anfeindungen von Rechts, von ultra-konservativen und religiös-motivierten Gruppen, ja aus der Mitte der Gesellschaft, muss die LGBTI*-Community zusammenhalten."
Der CSD Berlin, der am 24. Juli stattfand (das ist wichtig, weil es in der Hauptstadt zum Auftakt des Pride Monates im Juni bereits zahlreiche kleinere Paraden gegeben hatte), will "auch innerhalb unserer Communities eine Sensibilisierung für jede Form der Ausgrenzung, Stigmatisierung und Diskriminierung aufgrund von chronischen Krankheiten und Einschränkungen". Und Leipzig verlangt in der 26. von 27 Forderungen mehr Toleranz und Respekt innerhalb der queeren Community: "Sexismus, Rassismus, Klassismus und Transfeindlichkeit, ebenso wie Diskriminierung auf Grund des optischen Erscheinungsbildes, des Alters und wegen vieler weiterer Eigenschaften sind leider auch in unseren Reihen allgegenwärtig." Erinnert wird an den Stonewall-Aufstand von 1969. "Im Geiste dieses Gedankens sollten wir uns wieder mehr darauf besinnen, dass unsere Community vielfältig ist und uns selbst sensibilisieren, neben der Akzeptanz, die wir nach außen hin fordern, nicht den Wert des Zusammenhaltes innerhalb der Community zu vergessen."
Es scheint mir dringender denn je – Achtung: eine Forderung! -, dass die Community sich verstärkt um das eigene Miteinander kümmert. Wie wollen wir leben? Diese Frage stellt sich nicht nur im großen Rahmen. Sie wird auch nicht nur durch einen Forderungskatalog an "die" Gesellschaft erschöpfend beantwortet. Haben wir nicht zum Beginn der Corona-Pandemie alle von Achtsamkeit, von Rücksichtnahme, von einer neuen Form des Miteinanders geträumt und geredet? Ist das alles schon dahin? Im wohlverdienten Selbstbewusstsein der jährlichen Parade sollten wir das Fragile, das Schützenswerte, das Mühsame und das Schöne unseres alltäglichen Community-Lebens nicht vergessen. Dass es dem anderen – dem Nächsten – und einem selbst physisch wie psychisch gut geht –, das wäre doch ein Punkt, an dem es sich bis zum nächsten CSD gemeinsam arbeiten ließe.