"Moderne Gesellschaften sind große Neidkraftwerke", so hat es der Philosoph Peter Sloterdijk einmal auf den Punkt gebracht. Unentwegt stachelten sich Konsumenten in einer "medial inszenieren Konsumpanik" gegenseitig zu noch mehr Konsum an.
Vielleicht sollte man die aktuelle Aufregung um den "Impf-Neid" vor diesem Hintergrund sehen. Die einen sind geimpft und prahlen damit, die anderen sollen applaudieren und abwarten. Nirgendwo wird diese Form neuerlicher, durch die Pandemie verursachter Verwerfung sichtbarer als in den sogenannten Sozialen Medien und Netzwerken. Massenweise finden sich Fotos von Impfpässen oder dem Pflaster auf der Schulter. Likes ohne Ende! Da sind Hinweise, dass andere Menschen, die dringend auf eine Impfung warten, diese Freudesgeste möglicherweise als eher frustrierend empfinden, unerwünscht. "Du bist ja nur neidisch!", heißt es dann. Missgünstig, egoistisch, unfähig, sich am Glück anderer erfreuen zu können.
Dabei weiß, wer sich auf dem Marktplatz der Aufmerksamkeitsökonomie tummelt, durchaus, dass solch ein Selfie mit Impfpass unausgesprochen heißt: "Mein Haus – meine Yacht – meine Impfung!!!" Dieser Nachweis von erfolgreicher Wohlanständigkeit wird gern mit dem Hinweis versehen, man wolle andere zum Impfen ermutigen. Und sicher gibt es einige wenige, die posten es einfach, weil sie gottfroh ist, endlich eine Impfung erhalten zu haben.
Die Debatte um Impf-Neid verschärft sich in dem Maße, wie mit einer Impfung nicht nur der Gesundheitsschutz verbunden ist, sondern auch der Zugang zu seit Monaten verschlossenen Bereichen des Lebens – vom Museum über die Kneipe bis zum Reisen. Selbst wenn immer mehr Impfstoff zu Verfügung stehen und eine Impfung unkomplizierter zu erhalten sein wird: Unsere Gesellschaft wird einige Monate mit der Ungleichheit Geimpfte – Nichtgeimpfte zurechtkommen müssen. Die einen werden dürfen, was anderen verwehrt bleibt.
Im Mittelalter zählte der Neid zu den sieben Todsünden. Welche extremen Folgen er zeitigen kann, das stellt die Bibel gleich an den Beginn: Kain erschlägt Abel, weil Gott dessen Opfer vorzieht. In späteren Geschichten wird man von neidischen Brüdern dann nur noch in den Brunnen geworfen. Wo die christliche Lehre lange die moralische Pflicht zur Gefühlsregulierung forderte, da reagiert der moderne (marktwirtschaftliche) Staat mit dem Versuch des sozialen Ausgleichs, der sozialen Gerechtigkeit.
Und wie halten wir es in der Szene, in der Community (oder dem, was wir als Community sehen wollen) damit? Wir werden wir auf die kommenden Monate der "Ungleichheit" aufgrund des Impfstatus reagieren? Wie wird sich das Leben allgemein, in der Szene (sofern die Clubs und Kneipen überhaupt öffnen können) gestalten? Der auf jeder CSD-Parade demonstrierte Anspruch auf Gemeinschaft und Solidarität harrt in der Praxis oft der Erfüllung. Wie sehr die schwule Community von Konsum- und Konkurrenzinteressen bestimmt bzw. mit ihnen identisch ist, darauf hat schon vor über zwanzig Jahren Mark Simpson hingewiesen. Themen wie Armut oder gleiche Zugangschancen sind faktisch für die Community wie die Szene tabu, daran ändert auch nichts, dass mitunter von "classism" die Rede ist, den es zu bekämpfen gelte. Die Selbstdarstellung als materiell und körperlich erfolgreich durchzieht das Leben und die Medien der LGBTQ-Welt. Der "Erfolg" der Homosexuellenbewegung ging einher mit der Akzeptanz der Normen einer gehobenen (weißen) Wohlstandsklasse, in der der mobile, flexible, gebildete und ungebundene Einzelkämpfer gefragt war. Und nicht nur diesbezüglich ist die Community bis heute ein großes "Neidkraftwerk" geblieben. Auch hinsichtlich des Körpers regieren immer noch das Ideal vom trainierten Leistungskörper und das Bodyshaming. Fast immer verweist Neid ja auch auf ein schambesetztes Gefühl des Mangels und resultiert nicht selten in Versuchen, den angeblichen "Mangel" auszugleichen, mitzuhalten, selbst wenn uns das mitunter nicht guttut. Man kann sich noch so sehr ins Zeug legen: Es gibt immer jemanden, die/der schöner, reicher, beliebter, jünger ist. Und nun also für einige Monate das Bier in der Szene-Kneipe nur für Geimpfte? Die nächste lesbische Clubnacht nur mit Impfpass? Die anderen müssen halt draußen bleiben und sollen gefälligst nicht neidisch sein?
Wenn aktuell das Thema Neid an der Frage von Impfgerechtigkeit, von "Vorteilen" aufgrund des Impfens verhandelt wird, dann sollte sich der Blick weiten, inwieweit Neid nicht stets unser Leben, unsere Gesellschaft strukturiert. Können wir anderen auch etwas gönnen? Die Nichtgeimpften den Geimpften ein Mehr an Schutz und für eine Übergangszeit auch ein Mehr an Möglichkeiten, den Alltag ungehinderter zu gestalten? Die Geimpften den Nichtgeimpften das Recht auf Gefühle und den Wunsch, auch geimpft zu sein?
Manchmal hilft Warten und Geduld. Auch wenn es heißt, weiterhin bei einer Tasse Kaffee auf den Teststreifen starren und hoffen zu müssen. Ein wenig Neid auf die, die das nicht mehr müssen, weil sie erfolgreich geimpft sind, ist da völlig okay. Man sollte ihm nur nicht zuviel Raum einräumen und sich für die Zeit nach der Pandemie die Frage vornehmen, welche Gefühle künftig unser Verhältnis zu anderen Menschen bestimmen sollen. Neidkraftwerke sollten dabei zu den Auslaufmodellen zählen.