Eine durchaus traurige Stimmung erfüllt die Kirche am Lietzensee an diesem Sonntagabend am ersten Tag des neuen Monates März. Traurig, aber nicht trübselig. Geprägt vom Wissen um die geleistete Arbeit der Initiative KIRCHE positHIV und deshalb auch zurecht mit ein wenig Stolz. "Ich sing dir mein Lied" bildet einen beschwingten Auftakt, der klarmacht, dass es, bei aller schmerzlichen Rückschau, um Dankbarkeit, um Zeichen der Hoffnung auf steinigen Wegen, um Zuversicht gehen wird. Und ein Blick in den vollen Kirchenraum zeigt, wieviele Menschen der Aids-initiative Respekt erweisen wollen.
Provinzialvikar Br. Markus E. Fuhrmann ofm liest aus dem 1. Korintherbrief (12, 3-26) und erinnert so an den Ursprung eines kämpferischen Spruchs, mit dem die Initiative in den neunziger Jahren auf den Versuch großer Teile der Kirche, der Immunschwächekrankheit mit Ausschluss der Infizierten, mit überheblicher Ignoranz statt mit Solidarität und Unterstützung zu begegnen, aufmerksam machte. "Die Kirche hat Aids" verwies auf die Vision des Paulus von einer einigen Kirche als ein Leib aus vielen Gliedern, der kein hierarchisches wichtig-unwichtig, keine Spaltung in "die" und "wir" kennt. "Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, und wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit."
Bläulich schimmert die Fensterfront hinter dem Altar, passend zu der Thematik des Sees, des Meeres, das den Gottesdienst prägen wird. Der schwule Chor Männer-Minne, der neben den RosaCavalieren den Gottesdienst musikalisch begleitet, singt Charles Trenets "La mer", und in ihrer Predigt gibt auch die gerade erst neu ins Amt gekommene Pröbstin Christina-Maria Bammel der Metapher vom Meer viel Raum. Sie erinnert an all das menschliche Leid, das durch das HI-Virus verursacht wurde und immer noch wird. Sie dankt der Mitbegründerin der Aids-Initiative, Pfarrerin i.R. Dorothea Strauß, und allen Mitstreitenden, besonders auch den Franziskanern, für die Unterstützung und das unermüdliche Engagement über so viele Jahre. Und nun? "Ich gehe fischen", gibt sie Simon Petrus wieder, und schildert die Situation der Jünger am See von Tiberias, denen nach dem Tod Jesu die rechten Antworten fehlen. Sie werden in der Nacht keine Fische fangen, zu sehr überwiegt noch die Trauer über den Verlust. "Als es aber schon Morgen war, stand Jesus am Ufer, aber die Jünger wussten nicht, dass es Jesu war." (Johannes 21, 1-14)
"Morgen" im doppelten Wortsinn - es ist nicht nur das Bild einer durchgestandenen, aber erfolglosen Nacht, das Weichen der Zeit der Dunkelheit vor dem anbrechenden Morgen. Es meint auch "das Morgen", also die Zukunft, das Kommende in einer längeren Perspektive. Mit dem etwas ungewohnten Begriff "morgenfroh" skizziert die Pröbstin eine Stimmung, die von Vorfreude auf das, was kommen wird, geprägt ist, selbst wenn man vielleicht noch nicht klar sieht, was es sein wird.
Das folgende Abendmahl ist für mich persönlich ein wichtiger Moment. Während ich in der Schlange stehe, um Wein und Brot mit den anderen zu teilen, weiß ich um die Debatten und Konfliktlinien, die sich gerade an dieser Handlung entzündet haben. Der Gottesdienst hat einen versöhnlichen Charakter, aber ich bin eigentlich immer noch wütend. Nicht über die Ängste von Gemeinden, man könne sich beim Trinken aus dem Kelch infizieren, sondern über die Pfarrerinnen und Pfarrer, die unzähligen Menschen mit oder vermeintlich mit HIV-Infektion das Abendmahl verweigert haben. Die glaubten (!), andere als Sünder ausstoßen und die Geborgenheit in der Gemeinschaft verweigern zu können. Doch meine Wut verschwindet.
Beim anschließenden Empfang wird jemand zu mir sagen: "Wir waren erstaunt, dass so viele am Abendmahl teilnahmen!" Er meinte damit seine Sorge, dass die Furcht vor einer Infektion mit dem sich ausbreitenden Corona-Virus die Menschen vom Teilen des Kelches abhalten könnte. Es wirkt fast ein wenig bizarr, dass der Abschied einer Aids-Initiative sich mit der aktuellen Unsicherheit ob eines Grippe-Virus' vermischt.
Für die Eucharistiefeier wurde der Altar bereitet, auf einem roten Tuch vor ihm liegt das Gedenkbuch, das so viele Namen von aufgrund von HIV/Aids Verstorbenen enthält. Den Buchdeckel ziert eine große, rote Aids-Schleife. Dieses Gedenkbuch wurde 1993 erstmals ausgelegt, hier in der Kirche am Lietzensee; dieser Akt markierte gewissermaßen den Beginn der Ökumenischen Aids-Initiative. Und nach 26 Jahren endet sie, das Buch ist geschlossen.
"Vertraut den neuen Wegen", singen die Zusammengekommenen zum Schluss des Gottesdienstes, aber bevor es zuviel des Aufbruchs ist, liefern die RosaCavaliere mit "Wir wollen niemals auseinandergehn" noch den nötigen Tropfen Sentimentalität. Sie singen den Schlager zart, langsam, als wollten sie auch an die Zerbrechlichkeit erinnern, die jedem Versprechen innewohnt.
An den Gottesdienst schließt sich ein Empfang im Gemeindehaus an. In zahlreichen Grußworten steht neben mancher persönlichen Erinnerung der Dank für die geleistete Arbeit der Initiative im Vordergrund. Der Bürgermeister des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, Reinhard Naumann, zeichnet stellvertretend für alle UnterstützerInnen zwei ehrenamtliche Helfer aus, die mehr als zwanzig Jahren in der KIRCHE positHIV aktiv waren, und überreicht eine Dankesurkunde - auch im Namen der Stadt Berlin.
Viele der Rednerinnen und Redner, aber auch der anwesenden Gemeinde, betonen an diesem Abend, dass die seelsorgerische Aids-Arbeit noch immer nötig sei. Die KIRCHE positHIV nimmt Abschied ja nicht, weil das HI-Virus weltweit besiegt wäre, weil ein Impfstoff o.ä. gefunden wäre. Insofern könnte man tatsächlich sagen "Die Kirche hat immer noch Aids". Mit dieser Formulierung werden Interessierte im Grußwort des Superintenden Carsten Bolz eingeladen, an einem offenen Diskussionsabend "darüber nachzudenken, wie spirituelle Angebote für Menschen mit HIV und Aids in Zukunft aussehen könnten." Termin ist der 27. März 2020 von 18-20 Uhr im Gemeindehaus der Zwölf-Apostel-Kirche im Berliner Bezirk Schöneberg.
Am späten Abend verlasse ich die Kirche am Lietzensee, gehe zu Fuß nach Hause und denke dabei über "morgenfroh" nach. Schon ein eigenartiges Wort.