"Orangen sind nicht die einzige Frucht"

"Orangen sind nicht die einzige Frucht"
Jeanette Winterson
Bild: Sam Churchill
Jeanette Winterson
Der Klassiker von Jeanette Winterson wurde neu gedruckt. Katharina Payk hat den Roman mit lesbischer wie religiöser Thematik noch einmal gelesen.

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Buch mit einer homosexuellen Thematik? Meines war das beeindruckende Erzählwerk „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ der britischen lesbischen Schriftstellerin Jeanette Winterson, das 1985 im englischen Original („Oranges Are Not the Only Fruit“) und 1993 erstmals auf Deutsch erschienen ist. Die 2014 erschienene deutschsprachige Taschenbuchausgabe war zuletzt nur mehr gebraucht erhältlich. Nun wurde das berühmte Werk neu gedruckt und ist wieder im Handel erhältlich.

Was passiert, wenn man als queerer Mensch in einer fundamentalistisch-religiösen Umwelt aufwächst? Der stark autobiografisch geprägte Bildungsroman handelt von der Protagonistin Jeanette, die bei Adoptiveltern im englischen Lancashire aufwächst. Ihre Verwandten sind fanatische Mitglieder der evangelikalen Pfingstbewegung. Die Mutter, die in ihrer Tochter die Erwählte sieht, glaubt an die Verbalinspiration der Bibel. Sie malt die Welt in religiösen Bildern schwarz-weiß und habe, so die Ich-Erzählerin zu Eingang des Buches, „noch nie etwas von gemischten Gefühlen gehört. Es gab Freunde, und es gab Feinde.“

Die Gemeindemitglieder betreiben exzessive Missionierung und widmen ihr Leben ganz der Kirche. Jeanette ist temperamentvoll und exzentrisch. Ihren Mitschüler_innen jagt sie einen Schrecken ein, weil sie ihnen von der Hölle erzählt. In der Schule wird sie verspottet und gemieden. Ihre Mutter, die den Rest der Welt als ihren Feind auserkoren hat, hat ihre eigene Erklärung dafür: „,Wir sind dazu berufen, ausgesondert zu sein‘, sagte sie. Meine Mutter hatte auch nur wenige Freunde. Die Leute verstanden nicht, wie ich dachte, ich auch nicht, aber ich liebte sie, weil sie immer genau wusste, wieso etwas geschah.“

Eigentlich fühlt sich Jeanette stark verbunden mit ihrer Kirche. Doch dann merkt sie, dass sie sich zu Frauen hingezogen fühlt. Mit sechszehn verliebt sie sich in eine junge Frau. Für sie ist das erst einmal nichts Verwerfliches. Doch sie muss feststellen, dass ihre christliche Umwelt das anders sieht. Die Welt, die ihr immer Halt gegeben hat, fällt auseinander, und sie wendet sich schließlich von ihr ab, um ihren eigenen Weg gehen zu können.

Das Buch ist keine dystopische Moralgeschichte. Spannend, klug und humoristisch beschreibt die Erzählerin ihre eigensinnige Welt: Alles was in dieser vor sich geht, hat für sie eine Erklärung in der Bibel oder durch den Pfarrer. Mitunter kommt etwas sehr Schräges raus, wenn sie die Welterklärungen der Erwachsenen in ihre Lebensrealität überträgt. Schon als Kind hat sie philosophische und ethische Zugänge zu dem, was ihr in der Welt geschieht. Die Erwachsenen – etwa ihre Lehrerinnen – sind nicht immer in der Lage, ihren komplexen Deutungen zu folgen. So bekommt eine Lehrerin auf deren Unverständnis gegenüber einem von Jeanette gebastelten Kunstwerk unmissverständlich zu hören: „Nur weil Sie nicht erkennen können, was es ist, heißt das noch lange nicht, dass es nicht das ist, was es ist.“

Wintersons Erzählkunst ist so herausragend, dass man selbst an den Stellen, wo der Irrsinn den gesunden Menschenverstand zu übertrumpfen scheint, schmunzeln mag. Im Leseprozess ist die Ambivalenz von heimeliger Tradition und charmanter Schrulligkeit einerseits und entsetzlicher Ideologie und schwarzer Pädagogik andererseits erfahrbar. Die Autorin vermeidet emotionsheischende Betroffenheit, stattdessen ist der Roman authentisch und kurzweilig.

Ein „lesbisches Buch“ sei ihr Roman nicht, hat die Autorin des preisgekrönten Werks einmal betont. Es sei hingegen für alle, die es interessiert, was an den Grenzen des gesunden Menschenverstands passiert. „Do you stay safe or do you follow your heart?“

Sie habe nie verstanden, warum heterosexuelle Literatur für jede_n, aber alles mit einem homosexuellen Charakter oder homosexueller Lebenswelt nur für Queers sein soll, erklärt Winterson.

Vielmehr handelt es sich bei diesem vielfach ausgezeichneten Erzählwerk um einen theologischen Bildungsroman mit einer lesbischen Coming-out-Geschichte. Im Reflektieren über Gott und Kirche, Beziehungen und Liebe, wie es die Protagonistin tut, findet sicher auch der ein oder die andere Leser_in Anstöße fürs eigene Leben und Glauben, damals – zur Zeit der Entstehung des Romans – wie auch heute.

Mit „Orangen sind nicht die einzige Frucht“ feierte Winterson, die zahlreiche weitere Bücher veröffentlichte und heute für den Guardian schreibt, ein fulminantes Debüt: Der Roman wurde mit dem Whitbread First Novel Award ausgezeichnet und von internationalen Literaturkritiker_innen und -wissenschaftler_innen zu einem der bedeutendsten britischen Romane gekürt. Die Übersetzung von Brigitte Walitzek erschien 1993 im S. Fischer Verlag. Der Roman wurde zur Vorlage der gleichnamigen Miniserie (deutsche Erstausstrahlung 1993).

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Jeanette Winterson: Orangen sind nicht die einzige Frucht, aus dem Englischen übersetzt von Brigitte Walitzek, Kein & Aber 2019 (2014)