Es geht etwas zu Ende auf der Gedenkfeier an einem Samstagmittag Anfang Dezember in der Kapelle des Alten St. Matthäus Friedhofs in Berlin. Sechs Namen werden verlesen: sechs Menschen, die 2019 infolge einer HIV-Infektion gestorben sind. Etwa vierzig Menschen sind gekommen, um an sie und die anderen Toten zu erinnern und später für sie am Gemeinschaftsgrab Kerzen zu entzünden. "Das waren einst viel mehr!", sagt jemand zu mir, als wir dort stehen, bei trübem, leicht regnerischem Wetter. Er lässt es völlig offen, ob er die Zahl der Teilnehmenden meint oder die Zahl der Toten, ob er den Satz, in Bezug auf Erste, bedauernd oder, in Bezug auf Letztere, erleichternd meint. Jeder Name, der auf der schwarzen Sele - der Erweiterung der Grabanlage Denkmal positHIV - eingraviert ist, ist einer zuviel, und doch weist der Satz auf eine Veränderung hin, auf ein "einst" und ein "jetzt".
Im Jahr 2018 starben in Berlin zwischen 30 und 40 Menschen an HIV/Aids, bundesweit etwa 460. Seit Beginn der Epidemie, so die Zahl des Robert-Koch-Instituts, sind es etwa 29.200 Todesfälle. Dagegen die Zahlen der Lebenden: Ende 2018 lebten rund 87.900 Menschen mit HIV in Deutschland, 88% der HIV-Fälle sind diagnostiziert, 93% der Infizierten erhalten eine medikamentöse Behandlung und - die vielleicht wichtigste Zahl - bei 95% ist HIV nicht mehr nachweisbar. Unter Therapie ist HIV nicht übertragbar. Die HIV-Therapie verhindert die Vermehrung des Virus im Körper und verhindert eine Übertragung zuverlässig, wenn im Blut dauerhaft keine HI-Viren mehr nachweisbar sind. HIV ist dann auch beim Sex ohne Kondom nicht übertragbar. Im Alltag ist eine Übertragung ohnehin nicht möglich Ein Wissen, so Winfried Holz vom Vorstand der Deutschen Aidshilfe in einer Pressemitteilung, das unnötige Ängste vor einer HIV-Übertragung nehme. Und so lautete die Botschaft zum Welt-Aids-Tag in diesem Jahr: "Entspannt euch! Einem selbstverständlichen Zuammenleben steht nichts im Wege."
Pfarrerin i.R. Dorothea Strauß und Bruder Gregor Wagner ofm leiten an diesem Samstag im Dezember das Gedenken mit Gebeten und Fürbitten, wie auch in den Jahren zuvor. Ulrich Klein trägt Gedichte von Hilde Dormin, Mascha Kaléko, Bertolt Brecht vor, im Wechsel mit dem Ensemble "Die Goldvögel" - Rolando Guy (Tenor), Mads Elung-Jensen (Tenor), Daniel Wendler (Bariton) und Jinsil Koo (Klavier/Orgel) -, das Stücke von Händel, Bellini oder C.E.F. Weyse vorträgt: "Bleib bei uns, der Tag sich nun neiget". Ihre Stimmen sind wunderschön und so kräftig und klar, als müsse die Trauer und die Hoffnung die Wände der kleinen Kapelle überwinden.
Entspannen? Nach all den Jahren? Ja, vielleicht hierzulande. International sieht die Sache durchaus anders aus. In zahlreichen Ländern, etwa in Osteuropa / Zentralasien, steigen die Infektionszahlen, nicht zuletzt, weil eine wirksame Prävention durch die politischen Verhältnisse und die Stigmatisierung von Betroffenen verhindert wird. Knapp 38 Millionen Menschen lebten weltweit Ende 2018 mit HIV, aber nur etwa 61% hatten Zugang zu Medikamenten. Die fehlenden 39% sind ein Ziel, für das es sich unverändert lohnt, seine Stimme zu erheben und hier gleichen Zugang zu fordern.
Nach der Gedenkfeier gehen die Teilnehmenden gemeinsam von der Kapelle zum Gemeinschaftsgrab Denkmal PositHIV. Auf der dunklen Stele, der Erweiterung der Grabanlage, sind bereits die Namen der in diesem Jahr Verstorbenen hinzugefügt zur langen Liste derer, die vor ihnen an den Folgen der Immunschwächekrankheit starben. Es wird ein Kranz niedergelegt, Kerzen angezündet, das Vaterunser gebetet, der Segen erteilt.
Entspannen? Nach all den Jahren? Ein ungewohnter Gedanke für die, die in den achtziger, neunziger Jahren noch die volle Wucht der Epidemie erlebt haben. Community, das war für mich lange Zeit auch und vor allem der gemeinsame Kampf gegen eine tödliche Infektionskrankheit, gegen die eigenen Ängste und gegen die Ängste manch anderer, die sich zu Forderungen nach Internierung und Absonderung steigerten. Aber heute, 2019: Es gibt immer weniger Tote und immer weniger, die um sie trauern. Dazu passt es, dass sich auch Pressemeldungen der Deutschen Aidshilfe nicht mehr mit trübseligem Gedenken an irgendwelche Toten aufhalten. Die Zahlen müssen reichen, die Prävention konzentriert sich auf die Lebenden. Der Tod ist im Konzept des erfolgreichen Krankheitsmanagements ein misslicher Kolateralschaden geworden. Ja, da hat sich etwas verändert, und umso dankbarer bin ich für diese kleine Gedenkfeier, für die Menschen, die sie für uns, die Teilnehmenden, gestalten und ermöglichen.
Längst gibt es wieder mahnende Stimmen, die den Gedanken an eine Entspannung gern mit Sorglosigkeit gleichsetzen. Das Bild von der triebhaften und darum sündigen Sexualität, es wird uns lange erhalten bleiben. Dagegen kämpft eine Aufklärung an, die auf den mündigen Menschen setzt, der mit Information und Hilfsangeboten in die Lage versetzt wird, verantwortlich zu handeln. Auf lange Sicht wird HIV-Prävention aufgehen in einer umfassenderen Thematisierung von Gesundheit (der Selbstfürsorge) - der physischen wie der mentalen. Bleiben wird dabei der Kampf gegen Stigmatisierung von Betroffenen einer HIV-Infektion.
Die kleine Gedenkgemeinde am Gemeinschaftsgrab zerstreut sich, ein Teil geht noch zusammen ins Café Finovo am Eingang des Friedhofs, ein Teil besucht noch einzelne Gräber von Aids-Aktivisten. Ich mache einige Fotos und begebe mich dann auf den Weg nach Hause, im Kopf den Gedanken, das Gefühl: "Etwas ist hier zu Ende gegangen." Die Dinge sind nicht mehr wie "einst". Man kann sich zu HIV/Aids nicht mehr verhalten wie noch vor zwanzig Jahren. Vielleicht kann man auch nicht mehr so trauern wie einst. Vielleicht ist es Zeit zu entspannen. Eine zentrale Frage aber wird nicht enden, sei sie retrospektiv oder vorausschauend gestellt: Wo ist die Kirche, wenn ich in Not bin?