Queer pilgern?

Queer pilgern?
© Kerstin Soederblom
Während einer Sabbatzeit war ich in den letzten Monaten wandernd und pilgernd unterwegs. Und ich habe mich dabei gefragt, ob es eigentlich „queeres Pilgern“ gibt.

Fast 900 km bin ich in den letzten Monaten zum Annapurna Basecamp in Nepal, auf dem Coast to Coast Trail in Nordengland und auf dem St. Olavsweg in Norwegen gewandert und gepilgert. Offiziell bin ich davon nur zwei Wochen in Norwegen wirklich gepilgert. Für mich persönlich waren meine Wanderungen allerdings allesamt Pilgerreisen. Und es waren irgendwie auch queere Pilgerreisen. Warum? Davon möchte ich erzählen.

Pilgern

Wer pilgert, unternimmt zumeist eine Wanderung oder eine Reise zu einem heiligen Ort. Dieser Ort kann für eine Religions- oder Glaubensgemeinschaft heilig sein, manchmal für einzelne Menschen oder sogar für die Bevölkerung eines ganzen Landes. Nach katholischer Tradition gibt es unter anderem Wallfahrtsorte in Santiago de Compostela, dem Begräbnisort des biblischen Apostels Jakobus, in Rom die Grabstätte der Apostel Petrus und Paulus und in Jerusalem die Stätte, an denen Jesus gestorben, begraben und nach christlichem Glauben wieder auferstanden war. Außerdem gibt es viele Marienwallfahrtsorte wie Lourdes oder Fátima. 

Auch die evangelischen Kirchen weltweit haben in den letzten zwanzig Jahren das Pilgern wiederentdeckt und bieten Pilgerwege wie den Lutherweg in Sachsen Anhalt und Thüringen an. Die evangelisch-lutherische Kirche in Norwegen hat den mittelalterlichen St. Olavs Pilgerweg von Oslo zum Nidarosdom in Trondheim im Jahr 2010 offiziell als Pilgerweg wiedereröffnet. 

Manchmal sind es aber auch die Menschen vor Ort, wie zum Beispiel die Bevölkerung Nepals, die die Berge des Himalayagebirges unabhängig von Religionsgemeinschaften für heilig erklären. Wer, was oder welcher Ort als heilig gilt, ist also je nach Religion, Geschichte, Tradition und Lebenswelt sehr unterschiedlich.

Was die meisten Pilgerreisenden miteinander verbindet: Wer pilgert, ist zunächst einmal für kürzere oder längere Zeit auf dem Weg. Pilgernde unterbrechen ihren Alltag und ihre Gewohnheiten und ziehen los. Im Mittelalter waren Pilgeranlässe Buße, Glaubenskrisen und Suche nach Gottesnähe und Vergebung. Heutzutage werden Pilgerreisen oftmals aufgrund von existenziellen Krisen und Umbrüchen begonnen: Trennung, Scheidung, Kündigung, Krankheit, Verlust, Trauer, Sinnkrisen oder andere Erlebnisse veranlassen Menschen dazu, den Alltag hinter sich zu lassen und auf der Suche nach sich selbst und dem Sinn des Lebens loszuziehen. 

Die wichtigste Erkenntnis: Beim Pilgern nehme ich mein Leben mit. Meine Erfahrungen, meine Sichtweisen, meine Fragen, meine Stärken und Schwächen. Sie alle sind im unsichtbaren Reisegepäck dabei und brechen sich unterwegs Bahn; mal weniger deutlich und mit leiser Stimme, mal laut und mit voller Wucht. Wohl denen, die offen und neugierig genug sind, sich überraschen zu lassen von dem, was ihnen unterwegs widerfährt. Wohl denen, die sich ansprechen lassen von Menschen, die ihnen begegnen und die sich auf die Eigendynamik des Weges, der Natur, des Wetters und der Strapazen einlassen. Körper, Geist und Seele werden beim Pilgern aktiviert und mit Eindrücken gefüttert. Pilgern ist ein Ganzkörperereignis, das überraschend verlaufen kann.
So war es jedenfalls bei mir.

In Nepal hat mich und unsere kleine Wandergruppe der Zauber der Berge des Annapurna-Massivs überwältigt. Es waren intensive Erfahrungen in der Natur- und Bergwelt. Über 4000 Meter sind wir hoch gewandert. Die Panoramablicke in die Bergwelt der über achttausend Meter hohen Berge um uns herum waren magisch. Unsere Erlebnisse verbanden sich mit den Geschichten über Götter und heilige Orte, die uns unser nepalesischer Führer und andere Menschen erzählten, die wir unterwegs trafen. Die steilen Auf- und Abstiege führten mich zugleich an meine körperlichen Grenzen. Sie befeuerten die Auseinandersetzung mit mir selbst, mit meinem Gepäck, mit meinen schmerzenden Gliedern und mit der Frage, wann endlich die nächste Pause kommt. Manchmal fühlte ich mich unterwegs euphorisch, manchmal wollte ich meinen Rucksack einfach nur in die Ecke schmeißen. Aber ich ging weiter. Was ich dabei gelernt habe: Regelmäßig ein- und ausatmen und bewusst und achtsam den nächsten Schritt gehen. Mehr war nicht zu tun.

In Nordengland war ich davon überzeugt, dass wir drei Wochen lang eine spannende Wanderung von St. Bees an der Westküste nach Robin Hood´s Bay an der Ostküste Englands unternehmen würden. Es wurde tatsächlich eine abwechslungsreiche und durchaus anspruchsvolle Wanderung. Aber es war noch so viel mehr: Meine Partnerin und ich teilten jeden Morgen und Abend ein persönliches Segensritual. Wir dankten Gott und unseren müden Körpern jeden Abend, dass wir ohne Blasen und Verletzungen angekommen waren. Und wir trafen in den drei Wochen und über 300 km immer wieder auf sieben Wandersleute aus England und den Vereinigten Staaten. Wir trafen sie in den Unterkünften, unterwegs bei der Rast oder wenn die einen die anderen überholten. Ab einer gewissen Zeit begannen wir, Streckenabschnitte zufällig und später verabredet gemeinsam zu wandern. Und nicht viel später stellten wir uns gegenseitig Fragen: Woher und wohin? Seit wann auf dem Weg und warum hier? Was machst du und was denkst du? Wie siehst du diesen Weg, den nächsten Streckenabschnitt? Wo stehst du im Leben? Was glaubst du und woran zweifelst du? Hinzukam, dass die meisten Kirchen auf dem Weg offen waren und Vorbeikommenden Tee und Kekse anboten. An einem Sonntag wurden wir von Leuten aus einer Kirchengemeinde auf dem Weg unverhofft und herzlich in einen Gottesdienst eingeladen und teilten Abendmahl und Schlusssegen. Schwuppdiwupp waren wir mitten drin in spannenden Gesprächen über Gott und die Welt.

Unterwegs schien das irgendwie einfacher zu sein. Ich suchte nach dem Weg, freute mich über Wegzeichen, genoss die Ausblicke oder eine erholsame Rast. Mein Blick war nach unten oder nach vorne gerichtet. Ich war gemeinsam mit anderen auf dem Weg, fühlte mich freier und unbeobachtet. Ich bewegte mich ohne Druck und Terminzwänge. Die Natur und frische Luft taten mir gut und entkrampften Körper, Geist und Seele. Ich setzte mich mit meinen Grenzen auseinander, wenn mir meine Füße wehtaten oder wenn ich müde war. Und in unverhofften Momenten teilte ich mit anderen einen wichtigen Gedanken, oder ich fühlte mich plötzlich leicht und ganz bei mir.

Auf dem Pilgerweg in Norwegen waren wir in einer Gruppe zu zwanzigst unterwegs. Hier haben wir ganz bewusst morgens, mittags und abends geistliche Impulse geteilt, miteinander gebetet, gesungen und geschwiegen. Wir haben uns jeden Morgen gegenseitig einen Reisesegen weitergegeben und auf dem Weg allein und zu zweit über Gottesbilder, Zuflucht, Herzensthemen, die eigene Mitte und unsere Grenzen nachgedacht. Wir waren auf einem offiziellen Pilgerweg unterwegs, haben Andachten und einen Abendmahlsgottesdienst miteinander gefeiert. Mehr geht nicht an spiritueller Grundierung.

Die Erlebnisse, Begegnungen und Gespräche und Erlebnisse auf dem Weg haben sich für mich dennoch nicht grundsätzlich von denen in Nepal und Nordengland unterschieden. Überall waren Begegnungen, Gespräche, Schweigen und intensive Naturerfahrungen möglich. Oft ging es um Gott und die Welt, Lebenssinn, körperliche Grenzen und Erfahrungen mit Trauer und Tod. Ich habe mich selbst mitgenommen, habe meinen Alltag unterbrochen und bin mit mir und anderen zusammen ein Stück Weg gegangen. Meine Partnerin hat es in der Rückschau so zusammengefasst: Wir waren in diesen Monaten pilgernd wandern und wandernd pilgern unterwegs. Nicht mehr und nicht weniger.

Queer pilgern?

Wenn das nun alles so ist, gibt es dann auch "queeres Pilgern", habe ich mich und andere mehrfach gefragt. Gibt es nicht, habe ich mir nach einigem Hin und Her selbst geantwortet. Oder nicht, dass ich wüsste. Aber Moment: So einfach ist die Sache nicht. In dem Augenblick, in dem queere Leute pilgern, wird die Sache sehr wohl queer. Warum? Ganz einfach. Weil sie ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihr Gepäck und ihre Lebenswelt mit auf Reisen nehmen. Genau wie alle anderen auch.

Ein Beispiel: Ich und meine Partnerin waren auf unseren Wanderungen als Paar sichtbar. In Nepal weniger offensichtlich. Das ist uns vor der Reise deutlich angeraten worden. Trotzdem sind wir über Lebensformen und Genderidentitäten ins Gespräch gekommen. Wie lebt es sich queer, lesbisch, schwul oder trans in Nepal? Das waren Fragen an unseren nepalesischen Führer. Natürlich nicht am ersten Tag. Aber als klar war, dass er offen eingestellt ist und selbst darüber anfing zu sprechen, haben wir nachgefragt. Über einige meiner Erkenntnisse dazu habe ich bereits auf Kreuz & Queer berichtet.

Bei der Coast to Coast Wanderung waren wir als Paar sichtbarer. Und prompt kamen dazu Fragen von anderen auf dem Weg. Wie passt das zusammen, dass du Pfarrerin bist und lesbisch? Geht das überhaupt? Steht nicht in der Bibel etwas ganz anderes? Wie haltet ihr das in der Kirche aus mit all den verquarsten moralischen Vorstellungen? Und noch einige Wanderetappen später berichteten einige von Familienmitgliedern, die auch schwul oder lesbisch sind. Der schwule Bruder einer von ihnen war früher sogar katholischer Priester. Dann hatte er sein Coming-Out, verließ die katholische Kirche und trat einer anderen christlichen Denomination in den USA bei. Heute ist er dort ein offen schwuler Bischof, der mit seinem Partner zusammenlebt. Davon erzählte mir seine Schwester auf dem Weg. Sie berichtete davon, wie er und sie und auch die anderen Geschwister mit der katholischen Kirche bis heute haderten, weil sie die Doppelmoral nicht ertragen. 

Es dauerte nicht lange, bis wir begriffen, dass eigentlich alle unsere Mitwandernden jemanden in Familie oder Freundeskreises kannten, die auch „so“ sind. Die Gelegenheit war günstig, uns zu unseren Erfahrungen zu befragen. Denn wir traten als Paar offen und selbstverständlich auf. Und beim Wandern hatten wir Zeit. Da war es möglich, über Konflikte und Kontroversen im Familien- und Bekanntenkreis zu sprechen; über Verletzungen, Versöhnungen und offene Rechnungen. Wir waren also mitten drin in Fragen, die wir aus unserem Alltag kannten: Wie geht queer und gläubig sein zusammen? Was sagt die Bibel dazu? Und wie schafft ihr es, trotz Vorbehalte und Konflikte euer Leben zu leben und bei euch selbst zu bleiben? Viel haben wir darüber geredet, genauso wie wir viel über andere Themen gesprochen haben. Ist das nun queeres Pilgern, habe ich mich irgendwann gefragt. 

Ich nahm diese Frage auch mit auf unsere Pilgerreise auf dem St. Olavsweg in Norwegen. Auch dort war das Thema unverhofft präsent. An einem sonnigen Nachmittag nach einer kürzeren Etappe saßen wir zu viert auf der Terrasse unserer Hütte für die Nacht. Wir tranken Kaffee, aßen Plätzchen und ließen es uns gut gehen. Und genau in dieser entspannten Atmosphäre begannen die beiden älteren Frauen zu erzählen. Die eine hat eine offen lesbisch lebende Tochter, die vor einiger Zeit ihre Partnerin geheiratet hat. Es gab auch eine kirchliche Trauung. Als Mutter sei sie stolz auf die beiden. Sie wüsste aber auch, dass nicht alle in ihrer Verwandtschaft das so sehen. Die andere erzählte, dass sie bei ihrem jüngsten Sohn vermutet, dass er schwul sei. Sie wisse es aber nicht sicher. Für sie wäre das kein Problem. Aber sie räumte ein, dass der Lebensweg für ihren Sohn sicherlich beschwerlicher wäre, wenn er tatsächlich sein Coming-Out haben würde. Beide kannten auch sonst Leute im Familien- und Bekanntenkreis, die lesbisch, schwul oder trans sind. Entsprechend neugierig haben sie meine Partnerin und mich gefragt, welche Erfahrungen wir bisher im Berufs- und Alltagsleben gemacht hätten. Unsere Sichtweisen und Erlebnisse waren für sie wichtig. Und damit wurden queere Themen sichtbar, spürbar und hörbar auf unserer Pilgerreise. 

Für mich war das einerseits überraschend. Ich hatte es nicht so erwartet. Aber andererseits war es vielleicht gar nicht so verwunderlich. Meine Partnerin und ich waren als Frauenpaar genauso präsent und sichtbar, wie die Alleinlebenden, Geschiedenen, Verheirateten und Verwitweten in unserer Gruppe auf dem Pilgerweg mit ihren Erfahrungen sichtbar waren. Wir alle hatten unser Lebensgepäck, unsere Themen und Fragen mit dabei. Sie haben beeinflusst, worüber wir mit anderen geredet und worüber wir nachgedacht haben. Vielleicht waren wir unterwegs auch mutiger als zuhause. Denn es stand nichts auf dem Spiel. Das, was beim Pilgern gesagt wurde, war momenthaft und vertraulich. Es blieb bruchstückhaft und auf dem Weg. Denn irgendwann wurden die nächste Steigung, ein Stein im Schuh oder die Rast auf dem Weg wieder wichtiger. 

Mein Resümee nach diesen Monaten unterwegs: Es gibt vermutlich kein „queeres Pilgern“. Aber unterwegs sein mit queeren Themen und Erfahrungen von queeren Menschen beim Pilgern gibt es jede Menge. So haben wir es jedenfalls erlebt.

Und was es zudem sehr wohl gibt: queere Pilgerziele wie zum Beispiel das Stonewall Inn in der Christopher Street in New York. Dort begann 1969 der Beginn der schwul-lesbischen und transidenten Befreiungsbewegung. Oder aber das Castroviertel in San Francisco. Dort gibt es bis heute eine lebendige schwul-lesbisch-queere Infrastruktur. Harvey Milk hat dort in den siebziger Jahren des 20. Jahrhundert als offen schwuler Politiker und Bürgerrechtler gelebt. Oder Skala Eressos auf Lesbos, dem Geburtsort der Dichterin und Lehrerin Sappho. Aber darüber werde ich in einem anderen Blogeintrag berichten.