Das große Familienfest liegt hinter uns, die Weihnachtstage sind vorbei. Wir feiern die "Heilige Familie", aber Jahr für Jahr werden Friede und Freude der Weihnachtszeit von der Realität in unseren Familien gestört: Unter dem Druck der Harmonie dieser Tage brechen unausgetragene Konflikte erst recht auf, konfliktträchtige Verhaltensmuster, die wir von den anderen längst kennen, führen unweigerlich zur Eskalation. Alle Jahre wieder...
Auch in diesem Jahr wird es Familien gegeben haben, in denen Queers ihre Liebsten nicht zum großen Familienfest mitbringen konnten. Weil sie vor der Familie ungeoutet waren, weil die Familie Partnerin oder Partner ablehnt, weil die Tante, die unweigerlich am zweiten Feiertag kommt, von dem Anderssein des Kindes nichts mitbekommen soll. In die Weihnachtsfreude mischen sich Trauer und die Sehnsucht nach der abwesenden Partnerin oder dem abwesenden Partner...
Natürlich wird es auch das Andere gegeben haben: Tatsächlich erfüllte Weihnachtstage. Ich selber habe sie dieses Jahr so erlebt - obwohl das nicht von vornherein zu erwarten war. Zum ersten Mal habe ich meinen neuen Partner zu meiner Familie mitgebracht. Latino, deutlich jünger als ich - da könnten Eltern schon einmal kritisch rückfragen. Doch die drei waren spätestens nach 10 Minuten ein Herz und eine Seele - und Jana, die sonst so Besucher-kritische Hündin meiner Eltern, hatte auch nach maximal 30 Sekunden nichts mehr an meinem Freund auszusetzen, sondern lag hingebungsvoll am Boden.
Der Weihnachtsfrieden war also ziemlich vollkommen bei uns - ich habe das als unglaubliches Geschenk erlebt. Ich kenne nämlich auch die anderen beiden Situation: dass da Partnerinnen oder Partner dabei sind (übrigens völlig egal ob hetero oder queer), mit denen ein Teil der Familie nicht zurecht kommt, dass sich Streit an Situationen entzündet, deren Eskalation zu erwarten war.
Wenn ich mir die "Heilige Familie" etwas näher betrachte, dann ist es eigentlich erstaunlich, wie aufgrund dieser Familienkonstellation so ein Harmonie-Druck auf heutige Familien zur Weihnachtszeit entstehen konnte: Der Zimmermann Josef stammt aus Bethlehem, doch die Arbeit hat ihn nach Nazareth verschlagen. Dort hat er auch seine Liebe gefunden, Maria. Doch eines Tages ist sie schwanger - und das jedenfalls nicht von ihm und ohne, dass die beiden verheiratet waren. Den Tratsch in der Nachbarschaft kann sich jede*r vorstellen, die oder der von den eigenen Großeltern noch gehört hat, wie die deutsche Gesellschaft bis in die 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein mit solchen "liederlichen" Frauen - und auch den schließlich geborenen Kindern! - umgegangen ist. Der Evangelist Matthäus gibt uns mit wenigen Worten Einblick in das Seelenleben Josef, als er von der Schwangerschaft Marias erfährt: "Josef aber, ihr Mann, der fromm und gerecht war und sie nicht in Schande bringen wollte, gedachte, sie heimlich zu verlassen." (Mt 1,19). Ein Wort darf man da wohl getrost korrigieren: "Josef, der (...) SICH nicht in Schande bringen wollte." Es bedarf eines Engels, der Josef im Traum erscheint, damit Maria nicht auch noch zur alleinerziehenden Mutter wird...
Maria, das weiß uns der Evangelist Lukas zu berichten, war von einem Engel schon viel früher vorgewarnt worden, was da passieren würde. Der Erzengel Gabriel höchstselbst erscheint ihr und verkündet, dass sie schwanger werden wird und den Sohn Gottes gebären soll (Lk 1,26-38). Nach einer mehr oder weniger heftigen Diskussion mit dem Engel stimmt Maria schließlich in diesen Plan ein. Als sie ihre Verwandte Elisabeth besucht, die gerade mit Johannes dem Täufer schwanger ist, stimmt sie sogar ob dieser beiden Schwangerschaften ein Loblied auf Gott an, das getrost als revolutionär bezeichnet werden kann (und in den Diktaturen Lateinamerikas in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts daher auch nicht im Gottesdienst gesungen werden durfte).
Aber ich kann mir vorstellen, dass auch Maria immer wieder der Gedanke durch den Kopf schoss: "Was wird das alles werden mit uns?"
Kurz vor der Geburt sind die zwei dann ziemlich sicher mit der Großfamilie des Josef konfrontiert: Im Römischen Reich ist eine Volkszählung angeordnet - und dazu muss jeder männliche Bürger an den Ort zurückkehren, an dem er geboren ist. Dort nämlich hat er im Zweifelsfall Anspruch auf familiäres (Erb-)Land, und das bringt dem Staat Steuern ein. Auch wenn Lukas uns nichts davon erzählt, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass Josef und Maria so verloren in Bethlehem umherirren, wie wir das gerne in Krippenspielen erleben: Die Gesellschaft der damaligen Zeit war lange nicht so mobil wie die unsrige, dass Josef als Handwerker nach Nazareth zieht, dürfte eher die Ausnahme gewesen sein. Teile der Großfamilie aber lebten sicher noch in Bethlehem und hatten dort ihr Land und auch ein entsprechendes Haus. Die Familienmitglieder, die aus anderen Teile des Landes zur Volkszählung nach Bethlehem kommen mussten, werden also sicher hier Unterkunft gefunden haben. Aber natürlich ist es dadurch voll geworden im Haus.
Ob alle das seltsame Paar willkommen geheißen haben? Sicher werden einige der Männer Josef zur Seite genommen und gefragt haben, warum er denn trotz des vermeintlichen Seitensprungs noch zu Maria steht. Und sicher werden einige der älteren Frauen Maria gefragt haben, ob sie den vor der Hochzeit nicht besser hätte aufpassen können...
Und dann setzen die Wehen ein - und das Kind wird geboren! Es ist voll im Haus, und so legt Maria den kleinen Jesus irgendwann einfach im Futtertrog der Tiere ab. Was uns heute so ungeheuerlich erscheint, ist eigentlich naheliegend, wenn man sich den Grundriss der damaligen Häuser vor Augen führt: Mensch und Vieh leben unter einem Dach - auf der einen Seite des Hauses ist der Stall, auf der anderen - meist nur eine Stufe höher, damit die Tiere nicht sofort hinüber laufen - der Wohnbereich. Und in der Mitte zwischen beiden Bereichen stehen die Futtertröge. In seiner "Krippe" liegt der kleine Jesus also fast unweigerlich im Zentrum des Geschehens in diesem überfüllten Haus!
Eine fast ganz normale Geburt in einer fast ganz normalen, hektischen Zeit also. Besonders freilich wird sie durch die Engel, die diese Geburt vorbereiten und begleiten: den Engel, der Josef dazu bringt, zu seiner schwangeren Frau zu stehen, den Engel, der Maria verstehen lässt, was da gerade geschieht. Und dann schließlich die Engel, die den Hirten auf dem Feld verkünden, dass da gerade etwas Besonderes in Bethlehem geschehen ist. Auch die Hirten haben das zuerst nicht verstanden - recht deutlich müssen die Engel ihnen ihr "Fürchtet euch nicht!" entgegen rufen.
Warum also sollten unsere Familien zur Weihnachtszeit heiliger sein, als es die "Heilige Familie" war? Sie müssen es auch nicht - gerade wenn der Harmonie-Druck weicht, wenn Schrulligkeiten, noch nicht ausreichend bearbeitete Konflikte und Sorgen auch an Weihnachten ihren Raum haben dürfen, dann stellt sich vielleicht der Weihnachtsfrieden ein, weil ein Engel uns im Hintergrund begleitet und die Augen öffnet, für das, was in unseren Familien wirklich wichtig ist und trägt - egal in was für queeren Familienkonstellationen.